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BKA-Statistik zu digitaler Gewalt: Ein Bild mit Lücken



Mehr als 17.000 Frauen und Mädchen waren im vergangenen Jahr „Opfer digitaler Gewalt“. So steht es im neuen Lagebild zu geschlechtsspezifischer Gewalt des BKA. Dabei taucht dort nur ein Bruchteil der Fälle auf.

Drei Personen vor einer blauen Wand, dahinter Schriftzug "Bundespressekonferenz"Premiere in der Bundespressekonferenz: Zwei Ministerinnen und ein BKA-Vizepräsident stellen gemeinsam das Lagebild zu geschlechtsspezifischer Gewalt vor. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO

Als das BKA vor zwei Wochen erstmals ein Lagebild zu geschlechtsspezifischer Gewalt vorstellte, ging es vor allem um die darin erfassten fast 1.000 versuchten Femizide im vergangenen Jahr und die erneut gestiegene Anzahl von Fällen häuslicher Gewalt.

Erst ein zweiter Blick offenbarte, dass sich im Lagebild eine weitere Form von Gewalt fand, die Frauen und Mädchen laut Statistik überproportional oft trifft: digitale Gewalt.

Unter diesem Schlagwort fassen Fachleute all das, was entsteht, wenn eine patriarchale Gesellschaft durchdigitalisiert wird: Stalking mit Überwachungsapps und Trackern, heimliche Aufnahmen in der Umkleide oder sexualisierte Deepfakes, die Gezeigte bloßstellen sollen.

Was das BKA mit digitaler Gewalt meint

Seit langem fordern Fachleute und Forscher:innen belastbare Zahlen dazu, wie häufig diese Formen von Gewalt vorkommen und wer besonders davon betroffen ist. Beratungsstellen berichten, dass Betroffene immer öfter mit diesen Anliegen Hilfe suchen. Empirische Studien oder statistische Erhebungen fehlten aber bislang. Dabei hat Deutschland sich schon 2018 dazu verpflichtet, solche Zahlen zu sammeln und vorzulegen – im Rahmen eines internationalen Abkommens zum Gewaltschutz.

Deswegen sind die Zahlen aus dem Lagebild des BKA zur „Fallgruppe Digitale Gewalt“ besonders interessant. Die Anzahl weiblicher Opfer digitaler Gewalt sei stark gestiegen, heißt es dort. 17.193 Opfer wurden 2023 verzeichnet, ein Plus von 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Fallgruppe digitale Gewalt zeige im Vergleich zu allen anderen Fallgruppen laut BKA den stärksten Anstieg bei den Zahlen von Opfern und Tatverdächtigen. Und zwar im Vergleich zum Vorjahr wie auch im 5-Jahres-Vergleich.

Doch statt der erhofften Klarheit wirft dieser Abschnitt im Bericht erstmal besonders viele Fragen auf. Etwa die: Was meint das BKA überhaupt, wenn es von digitaler Gewalt schreibt? Und was lässt sich aus diesen Zahlen nun ableiten?

Grooming, Stalking, Upskirting

„Digitale Gewalt umfasst hier konkrete Delikte, wie ‚Cyberstalking‘ sowie andere Delikte, die unter Nutzung beispielsweise von Sozialen Medien oder mittels Smartphones begangen werden“, steht dazu im Lagebild. Darunter folgt eine kurze Liste mit vielen Paragrafen. Die Überraschung: Für die Fallgruppe „Digitale Gewalt“ hat das BKA lediglich fünf Straftatbestände in den Blick genommen:

  • Sexueller Missbrauch von Kindern, von Jugendlichen und von Schutzbefohlenen ab 14 Jahren (§§ 176-176e StGB, § 182 StGB, § 174 StGB)
  • Verletzung des Intimbereichs durch Bildaufnahmen (§ 184k StGB)
  • Nötigung (§ 240 StGB), Bedrohung (§ 241 StGB), Nachstellung/Stalking (§ 238 StGB)

Unter „sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen“ fällt etwa das Phänomen Cybergrooming. So nennt man es, wenn sich Erwachsene Minderjährigen im Netz mit sexueller Absicht nähern. Rund 2.800 betroffene Mädchen verzeichnet das Lagebild. Sie sind mit 82 Prozent überproportional häufig betroffen.

Der Paragraf 184k StGB zur Verletzung des Intimbereichs durch Bildaufnahmen gilt erst seit 2021 und wurde in den Medien vor allem als „Upskirting-Verbot“ bekannt. Er stellt Aufnahmen unter Strafe, die „Genitalien“, „Gesäß“ oder die „weibliche Brust“ zeigen; egal ob nackt oder in Unterwäsche. Er zielt auf Fälle, in denen Täter:innen heimlich unter den Rock oder in den Ausschnitt fotografieren.

Eine Nötigung im Kontext von digitaler Gewalt läge etwa vor, wenn Täter*innen damit drohen, intime Bilder zu veröffentlichen, um Personen zu bestimmen Handlungen zu bewegen. Oder wenn sie mit körperlicher Gewalt drohen, sollte man einen bestimmten Post auf sozialen Medien nicht löschen. Diese Beispiele nennt etwa die Organisation HateAid, die Betroffene digitaler Gewalt berät.

Weil all diese Taten analog wie digital erfolgen können, hat das BKA die Straftatbestände zudem weiter gefiltert. Ins Lagebild eingeflossen sind nur Taten, die laut Statistik mit „Tatmittel Internet und/oder IT-Geräten“ begangen wurden. Beim Stalking wären das also Fälle, in denen Täter:innen jemanden im Netz oder mit Hilfe von Geräten nachstellten.

Stalking ja, heimliche Aufnahmen nein

Diese Auswahl von Delikten scheint zumindest unvollständig. Wo sind hier etwa Phänomene wie das heimliche Filmen in Umkleiden oder auf Toiletten, im Gesetz strafbar als „Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen“? Dieser Paragraf greift etwa, wenn jemand etwa heimlich in der eigenen Wohnung gefilmt wird. Aber auch dann, wenn Täter:innen Kameras in Umkleiden, auf Toiletten oder in Hotelzimmern verstecken. Auf manchen Pornoplattformen findet man solche Aufnahmen unter dem Schlagwort „Voyeurismus“ – teils nur inszeniert, teils tatsächlich  ohne das Wissen der Gezeigten.

Ebenfalls nicht unter digitaler Gewalt verbucht: Doxing. So nennt man es, wenn Täter:innen persönliche Daten wie Adresse, Klarnamen oder Geburtsdatum von anderen öffentlich machen. Das Ziel: möglichst großen Stress und Schaden verursachen.

Zuletzt tauchen auch sogenannte Ehrdelikte wie Beleidigungen auf sozialen Medien nicht auf. Das ist vor allem bemerkenswert, weil sich hier eine Kluft zwischen der Auswahl des BKA und der Wortwahl aus dem Bundesjustizministerium auftut. Letzteres hatte vergangenes Jahr Eckpunkte für ein „Gesetz gegen Digitale Gewalt“ vorgelegt. Gemeint waren damit: Die Rechte von Menschen, die im Netz bedroht und beleidigt werden. Sie sollten im Zivilrecht gestärkt werden, etwa indem die Accounts der Täter:innen gesperrt werden und Betroffene Auskunft dazu bekommen, wer sie dort belagert.

Im Lagebild des BKA zu digitaler Gewalt tauchen Beleidigungen im Netz hingegen gar nicht auf. Dabei sind es gerade diese Phänomene, die als „Hass im Netz“ die Debatte in den vergangenen Jahren geprägt haben.

Weitere Taten ab kommendem Jahr erfasst

Ein Teil des Problems liegt dabei schon eine Ebene höher: im deutschen Strafrecht selbst. „Lückenhaft und unsystematisch“ nennt das etwa die Juristin Anja Schmidt, die das Thema an der Universität Halle-Wittenberg erforscht. Gerade für Erwachsene, die von Formen bildbasierter Gewalt betroffen sind, gebe es im Strafgesetzbuch keinen konsistenten Schutz. Doch selbst mit diesem Wissen hätte das BKA die Liste um die oben genannten Straftatbestände erweitern können.

Ein BKA-Sprecher teilt mit, man sei „kaskadenartig“ vorgegangen: Zunächst seien Delikte identifiziert worden, die überwiegend Frauen und Mädchen betreffen. Dann die Taten, die erst bei Berücksichtigung weiterer Aspekte das Kriterium erfüllen. So betrifft etwa Stalking laut dem Lagebild überwiegend Frauen und Mädchen.

Bei Bedrohung und Nötigung ist das zwar nicht der Fall. Aber wenn man auf die Kontexte von innerfamiliärer Gewalt und Partnerschaftsgewalt schaut, sind auch hier überwiegend weibliche Personen betroffen. Die Statistik erfasst auch diese Zusammenhänge und weist dazu jeweils eigene Zahlen aus.

Warum tauchen bestimmte Straftatbestände nicht in den Daten auf? Zu Doxing sei 2023 in der Statistik noch keine Information zum Geschlecht der Opfer erfasst, teilt das BKA mit. Ab 2024 sei auch hier eine Erfassung vorgesehen.

Das gleiche gelte für Beleidigung, Verleumdung und üble Nachrede auf sexueller Grundlage sowie die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen. Dies soll ab kommendem Jahr mit im Lagebild aufgeführt werden. Die konkrete Fallgruppen-Zuordnung werde noch geprüft.

„Kein Abbild der Realität“

„Grundsätzlich ist es gut, Zahlen zu digitaler Gewalt zu haben“, sagt Elizabeth Ávila González, die beim Dachverband der Frauenberatungsstellen und Notrufe zum Thema arbeitet. „Weil es die Dimension sichtbarer macht und auch ein Bewusstsein dafür schafft“. Wenn die Zahlen nun jährlich veröffentlicht werden, ließen sich auch Trends besser erkennen.

Sie weist allerdings auf die vielen Einschränkungen hin. „Die Polizeiliche Kriminalstatistik bildet das Hellfeld ab und somit das Anzeigeverhalten von Betroffenen. Ein Abbild der Realität ist das nicht.“ Aus den Beratungsstellen wisse man, dass Betroffene digitale Gewalt oft auf eine Anzeige verzichten. Weil sie von der Polizei und Staatsanwaltschaften nicht ernst genommen würden oder davon ausgehen, Täter:innen würden ohnehin straffrei ausgehen.

Wenn es also vom BKA heißt, die Fallgruppe digitale Gewalt zeige „im Vergleich zu allen anderen Fallgruppen den stärksten Anstieg bei den Opferzahlen (+25 Prozent) und den Tatverdächtigenzahlen (+20,1 Prozent)“, und zwar im Vergleich zum Vorjahr wie im 5-Jahres-Vergleich, dann lässt sich daraus erst mal erkennen, dass mehr Fälle nach den genannten Paragrafen zur Anzeige gebracht und ermittelt werden. Über die wahre Ausprägung der Not hingegen sagt es wenig.

Was im Lagebild ebenfalls fehlt: Menschen, die nicht in eine zweigeschlechtliche Norm passen. Sie existieren in der statistischen Erfassung der Polizei nicht. Dort ist nur von Frauen und Männern die Rede, von weiblich und männlich. Patriarchale geschlechtsspezifische Gewalt richtet sich allerdings nicht nur gegen Frauen und Mädchen.

Ergebnisse zur Dunkelfeldstudie 2025 erwartet

Klarere Antworten könnte eine Studie liefern, die das BKA gemeinsam mit dem Bundesfamilien- und dem Bundesinnenministerium in Auftrag gegeben hat: „Lebenssituation, Sicherheit und Belastung im Alltag“ (LeSuBia) heißt sie. Sie soll das Dunkelfeld untersuchen, und zwar durch repräsentative Befragungen. Das geschieht geschechterübergreifend, „damit ein direkter Vergleich möglich ist“, schreibt das BKA auf seiner Webseite. Auch um digitale Gewalt soll es dabei gehen. Ergebnisse werden für 2025 erwartet.

Zum ersten Mal könnte es dann nicht nur Umfragen und Erfahrungsberichte aus den Beratungsstellen geben, sondern auch belastbare Zahlen dazu, wie häufig Menschen in Deutschland tatsächlich gestalkt, im Netz bedroht oder gegen ihren Willen nackt abgebildet werden. Und wen das vorwiegend trifft.

Die Zahlen aus der Studie seien nicht direkt vergleichbar mit denen aus dem Lagebild, sagt der BKA-Sprecher. Trotzdem sei das Ziel, mit LeSuBia auch eine Aussage über das Verhältnis von Dunkel- und Hellfeld zu treffen. Als Teil des Katalogs werden Betroffene auch gefragt, ob sie berichtete Taten angezeigt hätten. „Auf der Basis dieser Angaben wird die sogenannte Anzeigequote berechnet, die eine adäquate und realistische Einschätzung der Hellfelddaten und der aktuellen Kriminalitätslage ermöglicht.“


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