4 months ago

Amnesty-Report: Versammlungsfreiheit in Gefahr



Amnesty International schlägt Alarm: Friedlicher Protest und das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit werden in Europa zunehmend eingeschränkt. Behörden überwachen Demonstrierende immer ausgeklügelter und schrecken sie vom Protest ab – auch in Deutschland.

Ein gepanzerter Polizist mit GasmaskeDie Polizei tritt Protesten in Europa zunehmend repressiv entgegen. Hier ein Beamter bei einer Klima-Demo im französischen Sainte-Soline. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / ABACAPRESS

Amnesty International hat sich den Status der Versammlungsfreiheit in 21 europäischen Ländern (PDF) angeschaut. Das Recht auf friedliche Versammlung gerate zunehmend unter Beschuss. Staatliche Behörden würden die Organisator:innen und Teilnehmenden stigmatisieren, behindern, abschrecken und hart gegen diejenigen vorgehen, die friedliche Proteste organisieren oder daran teilnehmen.

Die Menschenrechtsorganisation stellt fest, dass „willkürliche Massenüberwachung, strenge polizeiliche Maßnahmen, übermäßige Auflagen und die Gefahr strafrechtlicher Sanktionen“ Menschen einschüchtern von der Teilnahme an Versammlungen abschrecken würden. Dieser Abschreckungseffekt wirke sich unverhältnismäßig stark auf von Rassismus betroffene Menschen und marginalisierte Gruppen aus. Außerdem stellt Amnesty fest, dass viele Länder in diskriminierender Weise zwischen verschiedenen Protestbewegungen, Gruppen und Anliegen unterscheiden würden.

Immer mehr digitale Überwachung von Protesten

Laut Amnesty setzen die Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden der Staaten zunehmend hochentwickelte digitale Instrumente ein, um gezielt und massenhaft Demonstrierende zu überwachen. Diese Daten kämen nicht nur aus sozialen Medien und verdeckten polizeilichen Operationen. Sie beinhalteten auch die Erfassung biometrischer Daten, die wiederum zur Überwachung öffentlicher Plätze und Proteste unter Verwendung von Überwachungskameras, Drohnen und Bodycams genutzt würden.

Behörden würden Versammlungen zunehmend als „Gefahr“ sehen, die zunehmende Überwachung von Demonstrationen habe eine abschreckende Wirkung und würde Menschen von der Ausübung ihres Grundrechts abhalten.

Amnesty kritisiert auch die zunehmende Überwachung von Demonstrationen in Deutschland. So werden Bodycams heute schon in mehreren Bundesländern auch auf Demonstrationen eingesetzt. Zudem habe Deutschland in der Vergangenheit schon Gesichtserkennung zur Strafverfolgung bei Protesten eingesetzt, obwohl es dafür keine gesetzliche Grundlage gäbe.

Vermummungsverbote sind „unverhältnismäßig und diskriminierend“

Vor dem Hintergrund zunehmender Überwachung hat Amnesty auch Kritik am deutschen Vermummungsverbot, das ein Bedecken des Gesichts pauschal verbietet. Für Demonstrierende gäbe es eine ganze Reihe von Gründen sich zu bedecken. Dazu zählt Amnesty Bedenken hinsichtlich ihrer Identifizierung, den Schutz vor Tränengas oder das Tragen von Masken beispielsweise von Politiker:innen als Protestform.

Ein weiterer Grund sei Vermummung als Ausdruck von Religionsausübung. Pauschale Verbote von Gesichtsbedeckungen sind laut Amnesty „grundsätzlich unverhältnismäßig und diskriminierend“. Die Menschenrechtsorganisation sieht ein Vermummungsverbot höchstens dann als legitim an, wenn eine Demonstration unfriedlich würde.

Amnesty fordert im Bezug auf Überwachung unter anderem, dass die Anfertigung von Bildaufnahmen auf Demos durch die Polizei eingeschränkt wird und dass pauschale Vermummungsverbote aufgehoben werden. Gleichzeitig fordert die Menschenrechtsorganisation, dass biometrische Fernerkennung wie Gesichtserkennung auf Demonstrationen verboten wird. Auch sollen Menschen über ihre Überwachung auf Protesten informiert werden.

Wasserwerfer zielt auf ProtestGegen Blockaden von Klima-Aktivist:innen setzte die niederländische Polizei mehrfach deutsche Wasserwerfer ein. - Alle Rechte vorbehalten IMAGO / ANP

Kritik an Umgang mit Klimaprotesten und zivilem Ungehorsam

Kritik hat Amnesty auch am Umgang mit Klimaprotesten. Hier sind immer wieder die Niederlande im Bericht genannt, wo im letzten Jahr Tausende Menschen im Rahmen einer Kampagne von Extinction Rebellion eine Autobahn besetzten, um gegen fossile Subventionen zu protestieren. Im Rahmen dieser Proteste haben die niederländischen Behörden entgegen der Gesetze die Militärpolizei eingesetzt, die Proteste gefilmt und darüber hinaus mit geliehenen deutschen Wasserwerfern eine friedliche Blockade aufgelöst. Teilnehmende und aufrufende Personen wurden mit mehrjährigen Haftstrafen bedroht. Verurteilt wurde am Ende niemand.

Harte Geschütze fuhren die Behörden auch in Deutschland gegen Klimaproteste der Gruppe „Letzte Generation“ auf. Gegen die mit friedlichen Mitteln des zivilen Ungehorsam agierende Gruppe wird wegen angeblicher „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ ermittelt. Im Rahmen dieser Ermittlungen wurden zahlreiche Wohnungen durchsucht. Amnesty kritisiert zudem die gegen Klimaaktivist:innen eingesetzte Präventivhaft in Deutschland und die Polizeigewalt bei den Braunkohle-Protesten in Lützerath.

Überblick über Stand der Versammlungsfreiheit

Über diese und zahlreiche weitere Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, über Menschenrechtsverletzungen, die Rechtslage und fragwürdige polizeiliche Praxen gibt der Amnesty-Bericht einen Überblick in den Ländern Österreich, Belgien, Tschechien, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Ungarn, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlanden, Polen, Portugal, Serbien, Slowenien, Spanien, Schweden, Schweiz, Türkei und dem Vereinigten Königreich.

Der mehr als 200 Seiten starke englischsprachige Report (PDF) ist nicht nach Ländern, sondern nach Themen gegliedert. Das macht einen Ländervergleich schwierig.

Die Menschenrechtsorganisation fordert von allen Staaten, das für Demokratien elementare Grundrecht auf Versammlungsfreiheit mehr zu achten und Restriktionen zurückzunehmen. Sie kritisiert rechtliche Einschränkungen der Versammlungsfreiheit in zahlreichen der untersuchten Staaten, auch in Deutschland, wo unter anderem in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Hessen das Versammlungsrecht laut dem Bericht deutlich eingeschränkt wurde.


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