4 months ago

Zivilisten fliehen in Scharen: Die Lage in Kursk: Ukraine marschiert, Moskau reagiert



28, 44 oder 74 Siedlungen - wie viele kontrolliert die Ukraine derzeit in der russischen Region Kursk? Und, stehen 800 oder 1000 Quadratkilometer unter ihrer Kontrolle? Das ist unklar. Fakt ist jedoch, die Offensive Kiews dauert an - und scheint Russland nun zu einer Reaktion zu zwingen.

Die ukrainischen Truppen rücken nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj weiter auf russischem Gebiet vor. "Die Ukraine hat 74 Siedlungen unter ihrer Kontrolle", teilte Selenskyj in sozialen Medien mit. Die Angaben sind von unabhängiger Seite nicht überprüfbar. Sollten sie zutreffen, wäre es mehr als doppelt so viele Ortschaften, die Russland genannt hatte. Der geschäftsführende Kursker Gouverneur, Alexej Smirnow, hatte am Montag von 28 Orten unter ukrainischer Kontrolle gesprochen.

Selenskyj sagte, dass er sich fortlaufend vom ukrainischen Oberkommandierenden Olexander Syrskyj über die Lage informieren lasse. In den von der Ukraine kontrollierten Gebieten liefen nun Kontrollen und Stabilisierungsmaßnahmen. "Es werden humanitäre Lösungen für diese Gebiete entwickelt", sagte Selenskyj. Zuvor hatte Kiew betont, dass Zivilisten nicht zu Schaden kommen sollen.

"Trotz schwieriger, intensiver Kämpfe geht der Vormarsch unserer Kräfte in der Region Kursk weiter", sagte Selenskyj. Es würden auch immer mehr russische Soldaten gefangengenommen, um sie als Faustpfand zu nutzen für den nächsten Gefangenenaustausch mit Russland. "Ich danke unseren Soldaten für ihren heldenhaften Einsatz", sagte Selenskyj. Bisher ist von einigen Hundert russischen Kriegsgefangenen die Rede. Viele von ihnen sollen sehr jung sein. In sozialen Medien wird vielfach behauptet, es handele sich bei vielen von ihnen um russische Wehrpflichtige.

Kiew will Druck für Friedensverhandlungen erhöhen

Es würden die nächsten Schritte vorbereitet, sagte der Präsident. Details nannte er nicht. Er hatte schon zuvor gesagt, dass Russland den Krieg in die Ukraine gebracht habe und nun selbst spüren solle, was das bedeute. Ziel sei es, möglichst schnell einen gerechten Frieden zu erreichen. Die ukrainische Führung hatte zuletzt deutlich gemacht, die Gebiete im Raum Kursk als Faustpfand für Friedensverhandlungen nutzen zu wollen. Ziel sei es nicht, die Ortschaften dauerhaft zu besetzen.

Die ukrainische Armee greift seit dem 6. August in der russischen Region Kursk mit einer großen Bodenoffensive an. Das ukrainische Projekt DeepState sieht bisher weniger Ortschaften als Selenskyj unter der Kontrolle Kiews - und zwar etwa 44. Russische unabhängige Medien berichteten von etwa 30 Ortschaften.

Syrskyj berichtete Selenskyj in einem Videotelefonat, die ukrainischen Truppen seien "in einigen Gebieten um ein bis drei Kilometer vorgerückt". Binnen eines Tages habe die Ukraine "mehr als 40 Quadratkilometer Territorium" eingenommen. Nach Berechnung der Nachrichtenagentur AFP kontrollieren die ukrainischen Truppen derzeit mindestens 800 Quadratkilometer auf russischem Staatsgebiet. Syrskyj hatte am Montag bereits von rund 1000 Quadratkilometern gesprochen. In jedem Fall sind mittlerweile knapp 200.000 russische Zivilisten in der Region Kursk in Sicherheit gebracht worden, die Evakuierungen dauern wohl an. In der gesamten Region Kursk leben nur etwas mehr als 1,1 Millionen Menschen, der Großteil davon (440.000) in der namensgebenden Großstadt.

Moskau beordert erstmals Truppen aus der Ukraine zurück

Egal, wie viele Orte tatsächlich unter ukrainischer Kontrolle stehen und wie groß die eroberte Fläche derzeit ist, sie reicht aus, um Moskau zu Reaktionen zu bewegen. So berichtete der litauische Verteidigungsminister Laurynas Kasciunas bei einem Treffen mit Selenskyj in Kiew, dass russische Truppen aus Kaliningrad in die Region Kursk verlegt würden. Moskau bestätigte den Vorgang nicht. Zuvor berichtete das US-Magazin Politico bereits, dass russische Truppen aus den besetzten ukrainischen Regionen Cherson und Saporischschja ebenfalls nach Kursk verlegt würden. Auch dies wurde nicht offiziell bestätigt. Westliche Experten vermuten hinter der Offensive Kiews die Hoffnung, dass der Kreml Soldaten in ukrainischen Regionen abzieht und dort für Entlastung sorgt. Das könnte sich nun bewahrheiten.

Die Moskauer Führung hatte lange gezögert, auf den ukrainischen Angriff in Kursk zu reagieren. Die Bedrohung wurde sowohl lokal als auch im Kreml zunächst heruntergespielt. Erst nach einigen Tagen entsandte Moskau Reserven. Ein russischer Militärkonvoi wurde dabei offenbar von einer ukrainischen HIMARS-Attacke getroffen. Die Opferzahl schien immens zu sein. Zudem rückten die ukrainischen Truppen in Kursk weiter vor, wenn auch weniger dynamisch. Ein Video, das auf der Internetseite des Kremls veröffentlicht wurde, zeigte einen wütenden russischen Präsidenten, der hochrangige Beamte öffentlich angeht und ihnen Versäumnisse bei der Verteidigung der Region Kursk vorwirft. Westliche Experten glauben, dass viele Militärs dem russischen Präsidenten die tatsächliche Situation vor Ort oft bewusst verheimlichen. Die nun scheinbar stattfindenden Truppenverlegungen könnten auf eine Reaktion des Kremls auf die Lage vor Ort hindeuten.

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