Im Auftrag der EU verhandelt Außenministerin Baerbock mit der neuen syrischen Führung über einen Neustart der politischen Beziehungen. Gradmesser dafür sind auch Frauenrechte. Doch ihr Besuch offenbart Nachholbedarf der islamistischen Führung, wie Baerbock am eigenen Leib erfährt.
Die neue syrische Führung hat augenscheinlich größere Probleme im Umgang mit einflussreichen Politikerinnen aus dem Ausland, das offenbart der Besuch von Annalena Baerbock in Damaskus. Bereits am Freitag wurde bekannt, dass De-facto-Herrscher Ahmed al-Scharaa der deutschen Außenministerin bei ihrer Ankunft im Präsidentenpalast aus mutmaßlich religiösen Gründen den Handschlag verweigerte. Wie das Verifizierungsteam von ntv inzwischen herausfand, wurde die Politikerin zudem in sozialen Kanälen der islamistischen Rebellengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) unkenntlich gemacht.
Beispielhaft dient der HTS-nahe Kanal namens Almharar. Dieser veröffentlichte am Freitagabend vier Bilder des offiziellen Termins von Baerbock und der deutsch-französischen Delegation um Baerbock. Auf keinem der Bilder ist das Gesicht der deutschen Außenministerin zu erkennen. In einer Aufnahme sind zwei weitere Personen unkenntlich gemacht. Bei ihnen handelt es sich mutmaßlich um zwei Dolmetscherinnen, die zur Übersetzung der diplomatischen Gespräche bei dem Termin in Damaskus anwesend waren. Das ergibt ein Abgleich der Bilder mit Aufnahmen auf anderen Kanälen.
Frauenrechte als Gradmesser
Der Koran schreibt nicht vor, dass das Händeschütteln zwischen Mann und Frau verboten ist. Moderate Muslime meinen sogar, dass das Berühren von Körperstellen, die keiner Verschleierungspflicht unterliegen, sehr wohl gestattet ist. Strenggläubige Muslime wie die Angehörigen der islamistischen Rebellengruppe HTS leiten aus den religiösen Texten dagegen ab, dass das Händeschütteln mit einer Frau der erste Schritt zur "Unzucht" ist. Ultrakonservative islamische Länder wie Afghanistan oder der Iran zwingen Frauen zudem Kleidungsvorschriften wie das Tragen eines Kopftuches oder Schleiers auf.
In Syrien war die Verschleierung vor dem Sturz von Baschar al-Assad nicht notwendig. Auch Asma al-Assad, die Frau des brutalen Machthabers, trat in der Öffentlichkeit ohne Kopftuch auf. Diese moderate Sichtweise des Islam findet sich bei der staatlichen syrischen Nachrichtenagentur Sana wieder. Dort wurde Baerbock in Beiträgen zu ihrem Besuch in Damaskus nicht unkenntlich gemacht, wie das Verifizierungsteam von ntv feststellt.
Die deutsche Außenministerin hatte auch die Wahrung von Frauenrechten zu einem Gradmesser dafür erklärt, ob ein politischer Neuanfang zwischen Europa und Syrien möglich ist. Aufgrund des jahrelangen Krieges, den Assad gegen seine eigene Bevölkerung führte, haben die EU und die USA weitreichende Sanktionen gegen das Land verhängt.
Wie moderat ist al-Scharaa?
Nicht ausgeschlossen ist, dass sich die HTS angeführt von De-facto-Herrscher al-Scharaa in Zukunft ebenfalls moderater gibt. Der Anführer der islamistischen Rebellengruppe hatte zuvor bereits Turban sowie seinen Kampfnamen Abu Mohammed al-Dscholani abgelegt und seiner extremistischen Vergangenheit öffentlich abgeschworen. Kurz vor dem Jahreswechsel kündigte er zudem an, seine islamistische Miliz HTS auflzuösen und binnen vier Jahren Wahlen abzuhalten.
Syrien-Experten hegen allerdings Zweifel, ob al-Scharaa tatsächlich faire und freie Wahlen abhalten will. Sie merken an, dass die von ihm angeführte HTS vor ihrer Blitzoffensive autoritär in Idlib im Nordwesten Syriens herrschte. Menschenrechtler haben unter der HTS-Herrschaft zudem Folter und Tötungen politischer Gegner dokumentiert.