Sowohl die Ampel als auch die Opposition können mit dem Urteil des Verfassungsgerichts leben. Das ist schön. Einziges Problem: Viel einfacher wird das Wahlrecht nicht.
Das Urteil ist gerade mal ein paar Stunden alt, da meinen manche, der Verlierer stehe schon fest: das Bundesverfassungsgericht. Ausgerechnet Karlsruhe, das so streng über den Rechtsstaat wacht, kriegt es nicht hin, sein eigenes Urteil bis zur offiziellen Verkündung vertraulich zu halten. Am Vorabend der Bekanntgabe kursierte die schriftliche Begründung dazu, warum die Wahlrechtsreform der Ampel in Teilen verfassungswidrig ist, für eine Weile auf der Website des Gerichts. Wie peinlich!, schallt es nun aus vielen Ecken.
Ernsthaft?
In der Regel mosern wir Deutschen, dass digital so wenig läuft. Jetzt lief mal etwas zu digital, und es ist auch wieder nicht recht. Wir sind schon ein lustiges Völkchen.
Viel wichtiger als die unbeabsichtigte Sneak Preview des Urteils ist dessen Substanz. Die Entscheidung ist nämlich gar nicht so verkehrt. Die Karlsruher Richter, die beim Heizungsgesetz und der Schuldenbremse zuletzt für ein gewaltiges politisches Durcheinander sorgten, haben im Falle des Wahlrechts geradezu salomonisch geurteilt. Die Reform geht nicht einfach so durch, wird aber auch nicht vollständig gekippt. Das neue Wahlrecht muss repariert werden, gilt im Kern aber schon für die nächste Bundestagswahl. Und – ganz wichtig: Sinn und Zweck der ganzen Operation bleiben bestehen. Das neue Wahlrecht verhindert, dass das Parlament aus allen Nähten platzt. Die Zahl der Mandate im Deutschen Bundestag ist künftig bei 630 gedeckelt.
Das neue Wahlrecht bleibt angreifbar
Das ist für so ziemlich alle eine gute Nachricht. Für die Bürgerinnen und Bürger, weil sie mit dem neuen Wahlrecht ein arbeitsfähigeres und günstigeres Parlament bekommen als mit dem alten Wahlrecht. Für die Ampel, weil sie ausnahmsweise mal nicht die Note 6 für ihr Regierungshandwerk bekommt sondern eine solide 3. Für die Kläger, CSU und Linke, weil ihre parlamentarische Existenz von den Richtern ein Stück weit geschützt wird. Die Grundmandatsklausel bleibt vorerst bestehen. Auch künftig werden sie also im Bundestag sitzen, wenn sie mindestens drei Direktmandate gewinnen – egal, ob sie die Fünf-Prozent-Hürde reißen oder nicht.
Jetzt muss das Wahlrecht nur noch jemand verstehen. Denn nur weil Karlsruhe es halbwegs vollständig durchwinkt, wird es noch nicht einfacher. Mal ein Beispiel: Es dürfte eine beliebte Aufgabe im Politikunterricht werden, die so genannte Zweitstimmendeckung zu erklären, die das neue Wahlrecht ausmacht.
Wer gewinnt, sitzt nicht automatisch im Bundestag
Im Kern besagt sie, dass jede Partei nur so viele Sitze im Parlament bekommen soll, wie es ihrem Verhältnis der Zweitstimmen entspricht. Klingt fair, wird aber dann ein Problem, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr eigentlich zustehen. Es wird künftig Politiker geben, die selbst dann nicht in den Bundestag einziehen, wenn sie ihren Wahlkreis gewonnen haben. Wer nur sehr knapp gewinnt, dürfte von nun an schlechte Karten haben.
Ausgerechnet Wahlkreise, die besonders interessant sind, weil sie hart umkämpft sind, könnten also bald ohne parlamentarische Vertretung auskommen müssen. Das mag nicht schlimm sein, solange es ein theoretisches Szenario ist. Spannend wird es, wenn der erste Fall eintritt.
Erst dann wird man auch sagen können, ob das neue Wahlrecht schafft, wozu es auch da sein soll: das Vertrauen in die Demokratie zu stärken.