US-Vize lehnt AfD-Brandmauer ab: Darum hält J.D. Vance Europa für undemokratisch und unfrei

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Ein US-Vizepräsident zu Gast bei so etwas wie Freunden: In einer denkwürdigen Rede rechnet J.D. Vance mit Europa ab, ganz besonders aber mit Deutschland. Die angeführten Beispiele für eine angeblich eingeschränkte Demokratie erzählen viel von der Weltsicht der Trump-Regierung.

Die Rede von US-Vizepräsident J.D. Vance war von vielen europäischen Politikern in ängstlicher Spannung erwartet worden. Doch was der 40-Jährige zur Eröffnung der Münchner Sicherheitskonferenz vom Stapel ließ, sprengte wohl den Vorstellungsrahmen der meisten seiner Zuhörer. Kein Wort über Russlands Aggressionen gegen die Ukraine, keine Erklärung zu den Plänen der neuen US-Regierung zur Befriedung dieses Krieges, dafür aber eine 19 Minuten lange Tirade über den Zustand der Demokratien in Europa. "Wenn Sie Angst vor Ihren eigenen Wählern haben, kann Amerika nichts für Sie tun", sagte der 40-Jährige. "Und es gibt auch nichts, was Sie für das amerikanische Volk tun können, das mich und Präsident Trump gewählt hat."

Doch wie kommt Vance darauf, die demokratisch gewählten Regierungen Europas fürchteten die eigenen Wähler? Vance zählte eine Reihe von tatsächlichen, vermeintlichen oder falsch wiedergegebenen Vorfällen auf, die seiner Ansicht nach für ein unfreies Europa stehen. Im Zentrum der Rede: ausgerechnet Deutschland, Gastgeber der Sicherheitskonferenz. Die freie Rede im Internet werde eingeschränkt, die Menschen würden gegen ihren Willen mit einer Politik der Masseneinwanderung konfrontiert. Vance kritisierte den Ausschluss von AfD- und BSW-Vertretern von der Sicherheitskonferenz und kritisierte wörtlich die "Brandmauer" ("firewall") der übrigen Parteien gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD. Auch die EU, Rumänien, Schweden und Großbritannien nahm Vance ins Visier.

Eine unterschiedliche Auffassung von Redefreiheit

"In diesem Land hat die Polizei Razzien gegen Bürger durchgeführt, die verdächtigt wurden, frauenfeindliche Kommentare im Internet veröffentlicht zu haben, um 'Frauenfeindlichkeit im Internet zu bekämpfen'", sagte Vance. Tatsächlich durchsuchte und verhörte das Bundeskriminalamt am 7. März vergangenen Jahres 45 Beschuldigte, die im Internet etwa Gewalt gegen Frauen verherrlicht haben sollen. Grundlage für die im Rahmen eines Aktionstags durchgeführten Ermittlungen ist ein Urteil des Oberlandesgerichts Köln, in dem bestätigt wurde, dass pauschale Verunglimpfungen von Frauen als Volksverhetzung strafbar sein können.

Das Beispiel scheint exemplarisch für das völlig unterschiedliche Freiheitsverständnis der Trump-Republikaner einerseits und der meisten EU-Regierungen andererseits. Tech-Milliardär und Trump-Freund Elon Musk hatte bereits nach dem Erwerb der Plattform Twitter Regularien gegen die Verbreitung von Unwahrheiten, Gewaltdarstellungen sowie Hass und Hetze weitgehend außer Kraft gesetzt. Nach Trumps Wahlsieg schloss sich Mark Zuckerberg, Eigentümer von Facebook, Instagram, Threads und WhatsApp, diesem Kurs an. Die meisten EU-Regierungen sowie die EU-Kommission halten so einen Umgang mit sozialen Medien dagegen für ein Einfallstor, die Demokratie zu zersetzen, sei es durch extremistische Kräfte von innen oder durch fremde Staaten wie Russland.

Unterschiedlicher Umgang mit religiösen Konflikten

Ein anderes Beispiel, auf das Vance besonders viele Sätze verwendete, ist Adam Smith-Connor: Der Mann hatte im November 2022 vor einer Frauenklinik im englischen Bournemouth gebetet - obwohl in Großbritannien rund um solche Kliniken Bannkreise gelten, um Patientinnen vor dem Anblick und den Beschimpfungen radikaler Abtreibungsgegner zu schützen. Smith-Connor wurde zu einer Bewährungsstrafe und umgerechnet mehr als 10.000 Euro Strafzahlung verurteilt. "Ich fürchte, die Meinungsfreiheit ist auf dem Rückzug", sagte Vance hierzu und zog Parallelen zur Vorgängerregierung unter US-Präsident Joe Biden, die, so behauptete er, die Redefreiheit ebenfalls habe einschränken wollen.

In den USA versammeln sich radikale Abtreibungsgegner seit vielen Jahren vor Abtreibungskliniken und schüchtern immer wieder Frauen ein. Für Trump-Republikaner, die maßgeblich von nicht minder radikalen evangelikalen Kirchen unterstützt werden, sind solche Praktiken Teil der Redefreiheit.

Ein anderes Beispiel, das Vance nannte, ist die Ermordung des Koran-Verbrenners Salwan Momika Ende Januar in Schweden. Einer von Momikas Mitstreitern sei für die Koran-Verbrennungen verurteilt worden, weil die Redefreiheit in Schweden nicht die Beleidigung religiöser Gruppen umfasse. Als "erschreckend" bezeichnete Vance das Urteil. Salwan Najem erhielt eine Bewährungs- und Geldstrafe. Vance argumentiert offenbar, dass Koran-Verbrennungen Teil der Meinungsfreiheit seien. Wie er zu Bibel-Verbrennungen und pauschalen Christen-Beleidigungen auf amerikanischem Boden stünde, blieb offen.

Ein anderer Blick auf russische Einflussnahme

Ferner zeigte sich Vance "überrascht, dass ein ehemaliger EU-Kommissar kürzlich im Fernsehen auftrat und sich darüber freute, dass die rumänische Regierung gerade eine ganze Wahl annulliert hatte". Solch "unbekümmerte Aussagen" seien "für amerikanische Ohren schockierend". Schließlich werde den US-Bürgern seit Jahren gesagt, "dass alles, was wir finanzieren und unterstützen, im Namen unserer gemeinsamen demokratischen Werte geschieht".

Vance bezog sich auf den früheren EU-Kommissar Thierry Breton. Der hatte Anfang Januar mit dem französischen Sender BFMTV über eine etwaige Einmischung des Milliardärs Elon Musk in den deutschen Wahlkampf gesprochen. Hintergrund war die Ankündigung eines Gesprächs zwischen Musk und AfD-Chefin Alice Weidel und die damit verbundene Unterstützung der AfD durch den X-Chef. Im Dezember hatte Musk auf X geschrieben, nur die AfD könne Deutschland "retten".

Breton sagte: "Warten wir ab, was passiert. Bewahren wir einen kühlen Kopf und setzen wir unsere Gesetze in Europa durch, wenn die Gefahr besteht, dass sie umgangen werden, und wenn sie nicht durchgesetzt werden, zu Einmischungen führen können. Wir haben das in Rumänien getan und wir werden es offensichtlich auch in Deutschland tun müssen, wenn es nötig ist." Aus dem Kontext geht hervor, dass Breton über eine Regulierung von X spricht - einem Netzwerk, gegen das die Europäische Union mehrere Verfahren angestrengt hat, mit dem Ziel, zu prüfen, ob die Plattform die Vorschriften zur Eindämmung von Hassrede und Desinformation einhält.

Für Musk geht es also unmittelbar um seine Geschäftsinteressen. Den Fall selbst, die Annullierung der Präsidentschaftswahl in Rumänien, hat Vance falsch dargestellt. Nicht die rumänische Regierung hat die Wahl annulliert, sondern das rumänische Verfassungsgericht. Der Hintergrund ist eine offensichtliche Einflussnahme Russlands auf die Wahl, die der unabhängige Kandidat Călin Georgescu mit nur 22,9 Prozent der Stimmen gewonnen hatte - was ohnehin nicht gereicht hätte, um Präsident zu werden. Damit wäre Georgescu nur in die Stichwahl gekommen.

Vor der Wahl sei Georgescu einer breiten Öffentlichkeit in Rumänien wenig bekannt gewesen, schreibt Katja Christina Plate, die das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bukarest leitet, in einem aktuellen Gastbeitrag für ntv.de. "Vier Wochen vor der Wahl konnte er in Umfragen weniger als 1 Prozent der Stimmenabsichten auf sich ziehen." Nach der Wahl machten die rumänischen Behörden Geheimdienstberichte öffentlich, die von Manipulationen auf Social-Media-Plattformen ausgingen. Aber selbst eine russische Manipulation der Wahl ist aus der Sicht des US-Vizepräsidenten egal: "Wenn Ihre Demokratie mit ein paar Hunderttausend Dollar an digitaler Werbung aus einem fremden Land zerstört werden kann, dann war sie von Anfang an nicht sehr stark."

Vance lehnt die "Brandmauer" entschieden ab

Die AfD beschäftigte Vance in seiner Rede auch sonst: "Ich glaube wirklich, dass unsere Bürgerinnen und Bürger noch stärker werden, wenn wir ihnen erlauben, ihre Meinung zu sagen", sagte Vance. "Das bringt uns natürlich zurück nach München, wo die Organisatoren dieser Konferenz Abgeordneten, die populistische Parteien von links und rechts vertreten, die Teilnahme an diesen Gesprächen verboten haben." Tatsächlich haben die Organisatoren der Sicherheitskonferenz Vertreter von BSW und AfD explizit ausgeladen, weil diese von den Verantwortlichen als Sprachrohre und Werkzeuge russischer Propaganda gedeutet werden.

Doch aus Sicht der Trump-Republikaner ist all das zulässig. Der neue Verteidigungsminister Pete Hegseth ist vormaliger "Fox"-Moderator, wo russische Darstellungen zum Ukraine-Krieg regelmäßig als gleichwertig zu ukrainischen Sichtweisen dargestellt werden. Ex-Moderator und Trump-Kumpel Tucker Carlson bot Wladimir Putin und seinem Außenminister Sergej Lawrow in Form von Interviews große Plattformen für ihre Propaganda-Lügen.

Für die AfD machte sich Vance besonders stark: "Die Demokratie beruht auf dem heiligen Grundsatz, dass die Stimme des Volkes zählt. Es gibt keinen Platz für Brandmauern", sagte Vance. "Entweder man hält das Prinzip aufrecht oder nicht." Aus der Rede schien durch, dass Vance mit dem Verhältniswahlrecht und dem Mehrparteiensystem der meisten EU-Staaten entweder fremdelt oder nicht vertraut ist. Dass es Koalitionen braucht und Parteien autonom bestimmen, mit wem sie kooperieren, widerspricht jedenfalls nach kontinentaleuropäischem Verständnis nicht dem Demokratie-Prinzip - insbesondere dann, wenn die ausgeschlossenen Parteien nach Mehrheitsauffassung die Demokratie einschränken oder zerstören wollen.

Das wichtigste Thema aber sei "Migration", sagte Vance und bezog sich direkt auf den mutmaßlichen Terroranschlag am Vortag in München. "Die Zahl der Einwanderer, die aus Nicht-EU-Ländern in die EU kamen, hat sich allein zwischen 2021 und 2022 verdoppelt", sagte Vance. Das ist zwar richtig, ist aber der Corona-Pandemie geschuldet, die 2021 weltweit die Bewegungen von Menschen zum Erliegen gebracht hatte. Vance sagte: "Ich glaube, dass es nichts bringt, Menschen hängenzulassen, ihre Sorgen zu ignorieren oder - schlimmer noch - die Medien zu schließen, Wahlen zu verhindern oder Menschen vom politischen Prozess auszuschließen."

Vance zeigte sich überzeugt: In Deutschland herrsche politische Unfreiheit und Ungleichheit für Menschen, die die AfD wählen und unterstützen und sich eine andere Migrationspolitik wünschen. Das war nicht weit weg von Elon Musks Wahlaufrufen für die AfD. Das hierin zum Ausdruck gebrachte Misstrauen gegenüber Europas gewählten Regierungen steht für einen tiefen Spalt in den transatlantischen Beziehungen. Und dafür, dass es Trump und Vance um viel mehr als höhere Verteidigungsausgaben ihrer europäischen Nato-Partner geht - sofern die beiden Europa überhaupt als Partner betrachten.

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