Wenn der Bundeskanzler und der CDU-Chef sich treffen, muss etwas im Busch sein - oder? Am Morgen treffen sich Scholz und Merz im Kanzleramt. Anschließend spricht Letzterer allein vor Journalisten und gibt sich staatstragend. Doch er führt den Kanzler auch vor.
Als Friedrich Merz am Nachmittag vor die Journalisten in der Bundespressekonferenz tritt, ist die Spannung groß. Am Morgen hat er sich mit Bundeskanzler Olaf Scholz getroffen, hinter verschlossenen Türen, versteht sich. Die beiden sprachen über den mörderischen Anschlag von Solingen - und die Folgen daraus. Er habe Scholz eine Zusammenarbeit angeboten, sagt Merz nun. "Aus tiefer Sorge um das Land", wie er mit ruhiger Stimme sagt. In sachlichem Ton stellt er Scholz als überfordert dar: "Dem Bundeskanzler entgleitet das eigene Land", sagt er, und: "Die Basis des Vertrauens geht langsam verloren".
Dieser Vertrauensverlust zeigt sich in den Umfragewerten der Ampel, die seit über einem Jahr miserabel sind. Am kommenden Sonntag droht SPD, Grünen und FDP ein Debakel bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen. Die AfD könnte dagegen in beiden Ländern stärkste Kraft werden. So wie schon in ganz Ostdeutschland bei der Europawahl, die kurz nach einem ähnlichem Anschlag stattfand. In Mannheim hatte ein Islamist versucht, Menschen zu erstechen. Der Polizist Rouven Laur wollte das verhindern und bezahlte seinen Einsatz mit dem Leben.
Mit seiner Initiative greift Merz eine Stimmung auf: Es muss doch jetzt etwas geschehen, man kann nun nicht einfach schulterzuckend zur Tagesordnung übergehen. Der Eindruck könnte entstehen, weil die Migrationsfrage so komplex ist. Es gibt ein Dickicht an Regeln, an Rechten und an hehren Idealen. Zur nationalen Ebene kommt das EU-Recht hinzu, aber auch die Genfer Flüchtlingskonvention. Wenn Politiker auf diese, jene und all die anderen rechtlichen Schwierigkeiten hinweisen, stellt sich mitunter das Gefühl ein: Man kann eigentlich nichts machen.
"Nicht gewählt, um Probleme zu beschreiben"
Genau diesem Eindruck stellt sich Merz entgegen: "Wir sind nicht gewählt, um Probleme zu beschreiben, sondern um Probleme zu lösen." Das Recht müsse eben notfalls geändert werden. Er wolle nicht alle Errungenschaften kassieren, aber es gebe keine Tabus. Dabei ruft er den früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck als Zeugen auf: Der habe gesagt, die Parteien der Mitte müssten das Migrationsproblem lösen. Merz sagte, er habe Scholz gesagt, es säßen nun die beiden Personen am Tisch, von denen 80 Millionen Menschen in Deutschland erwarteten, Probleme zu lösen. Womit sich Merz auf eine Stufe mit dem Bundeskanzler stellt.
Scholz sieht allerdings ebenfalls Handlungsbedarf - wie er schon vor dem Treffen mit Merz deutlich gemacht hatte. Bei seinem Besuch in Solingen kündigte er eine Verschärfung des Waffenrechts und mehr Abschiebungen an. Merz lässt das aber nicht gelten - wie alles in dieser Koalition sei auch das "streitig".
Merz' Angebot: SPD und CDU sollen gemeinsam Gesetzesänderungen beschließen, um den Zustrom von Migranten zu bremsen. Scholz und er sollten je eine Person benennen, die einen "begrenzten Katalog" möglicher Gesetzesänderungen erarbeiten sollten - für die CDU soll das Thorsten Frei sein, der Erste Parlamentarische Geschäftsführer. Darüber könne der Bundestag ab dem 9. September beraten. Das ist die Haushaltswoche, Merz würde einen halben Tag für Solingen und die Folgen reservieren.
Perspektive: Koalitionsbruch
Für etwaige Abstimmungen solle Scholz den Fraktionszwang lösen, so wie er es zu Beginn der Legislatur bei der Abstimmung über eine Corona-Impfpflicht getan habe. Wenn Union und SPD sich "zusammenraufen", so Merz, würden Stimmen von Grünen und FDP "nicht gebraucht". Das wiederum würde auf einen Koalitionsbruch hinauslaufen. Merz sagte, sein Angebot sei keine Bewerbung um Aufnahme in die Regierung. Das Angebot sei ernst gemeint und habe nichts mit Parteitaktik oder den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen am kommenden Sonntag zu tun.
Der CDU-Chef hat sich erwartungsgemäß bereits Gedanken gemacht, wie das konkret aussehen könnte. Die Dublin-Regeln sollten wieder befolgt werden. Demnach muss ein Asylbewerber seinen Asylantrag in dem EU-Land stellen, das er zuerst betreten habe. Nach Afghanistan und Syrien solle wieder abgeschoben werden, notfalls müsse man dafür "auch mit dem Teufel sprechen", also Diktator Assad oder den Taliban. In Abschiebungen sieht er aber nicht den Schlüssel. Der liege in der Begrenzung des Zustroms, wie er sagte.
Sollte das nicht gelingen, solle Deutschland eine nationale Notlage nach Artikel 74 des Arbeitsvertrags der EU erklären. Das würde es Deutschland erlauben, Menschen an den deutschen Grenzen zurückzuweisen. Bislang muss jeder Asylantrag bearbeitet werden. "Dann ist deutsches Recht wichtiger als EU-Recht", sagte Merz. "Das geht." Wenn ein Asylbewerber zum Urlaub in sein Heimatland zurückkehre, dürfe er kein Asyl mehr bekommen, forderte der CDU-Chef. Wer ausreisepflichtig sei, dürfe kein Bürgergeld mehr bekommen. Das könne man niemandem erklären.
Was schafft die Ampel noch?
Bundespolizisten sollten mehr Rechte bekommen, forderte Merz. Sie sollten keine Bescheinigungen über Personenkontrollen mehr ausstellen müssten. IP-Adressen im Internet sollten gespeichert werden können, damit die Polizei sie für Ermittlungen nutzen kann. Das ist keineswegs eine neue Forderung der Union - sie verfolgt dieses Ziel seit Jahren. "Das sind Dinge, die wir ändern müssen", sagte Merz. "Und zwar schnell." Scholz habe sich Bedenkzeit erbeten, berichtete Merz. Angenommen hat er Merz Angebot also nicht - zumindest noch nicht.
Ob er das tun wird, ist fraglich. Sollte er mit Union und SPD gemeinsam Gesetzesänderungen beschließen, wäre die Ampelkoalition endgültig am Ende. Wenn eine Partei sich woanders die Mehrheit beschafft, wäre das eine Bankrotterklärung für das bestehende Bündnis. Das steht allerdings dermaßen desolat dar. Merz' Angebot könnte also einen gewissen Reiz haben. Denn es rechnet kaum jemand damit, dass die Ampel zu so etwas noch in der Lage wäre.
Indem er seine Forderungen nach dem persönlichen Gespräch gleich öffentlich macht, setzt Merz Scholz zugleich unter Zugzwang. Geht der Kanzler darauf ein, steht Merz als Taktgeber da. Geht er nicht darauf ein, wirkt er wie derjenige, der vermeintliche Lösungen ausschlägt. Ob Parteipolitik wirklich so gar keine Rolle spielt, kann man Merz glauben oder nicht.
Merz geht es dabei auch um die CDU, wie er offen einräumt. Er wünsche sich, dass das Thema Migration im kommenden Jahr nicht mehr Gegenstand der parteipolitischen Auseinandersetzung sei. Denn wenn das Problem nicht gelöst werde, schade das allen Parteien der Mitte. Die CDU, "die wir mühsam wieder aufgerichtet haben", solle nicht in den Abwärtsstrudel von SPD, Grünen und FDP hineingezogen werden.