
Israel wirft dem UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA Terrorverstrickungen vor und verbietet dessen Arbeit ab dem kommenden Jahr. Der Regierung in Jerusalem gehe es jedoch nicht nur um Bedenken bei der Neutralität, sagt Johannes Gunesch, Ansprechperson für UNRWA in Deutschland. Welche Folgen das Verbot haben wird und was die Organisation den Vorwürfen entgegnet, sagt er im Gespräch mit ntv.de.
ntv.de: Das israelische Parlament hat Ende Oktober zwei Gesetze verabschiedet, die es UNRWA ab 2025 verbieten, in Israel zu arbeiten. Außerdem wird israelischen Behörden jeglicher Kontakt zu dem UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge untersagt. Das würde auch die Aktivitäten in den besetzten palästinensischen Gebieten betreffen, da Israel die Grenzübergänge kontrolliert. Welche Folgen befürchten Sie für ihre Arbeit?
Johannes Gunesch: Die Folgen wären gravierend. Im Gazastreifen ist UNRWA das Rückgrat der humanitären Hilfe. Noch versorgt UNRWA die Hälfte der über zwei Millionen Menschen mit Nahrungsmitteln. Auch wurde zuletzt die Polio-Impfkampagne zu großen Teilen von uns durchgeführt. UNRWA ist zudem die einzige Organisation, die in der Lage wäre, irgendwann wieder ein Schulwesen aufzunehmen. Im Gazastreifen leben 660.000 Kinder. Ihnen und ihrer Zukunft muss endlich Priorität eingeräumt werden. So sind auch andere Organisationen auf die Kapazitäten, Logistik, Präsenz, Koordination und Akzeptanz in der lokalen Bevölkerung von UNRWA angewiesen. Ohne UNRWA würden die humanitären Operationen scheitern. Dabei kommt schon jetzt nicht genug Hilfe in den Gazastreifen, ist die Ernährungsunsicherheit teils katastrophal.
Was wären die Auswirkungen auf das Westjordanland und Ostjerusalem?
Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, kurz UNRWA, ist mit rund 30.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine der größten UN-Organisationen. UNRWA wurde 1949 im Zuge der Staatsgründung Israels eingerichtet, um den damals mehr als 700.000 vertriebenen Palästinensern Hilfe zu leisten. Ursprünglich als vorübergehendes Hilfsprogramm geplant, wird das Mandat seither regelmäßig um drei Jahre verlängert. Heute sind bei UNRWA 5,7 Millionen Geflüchtete im Gazastreifen, dem Westjordanland, dem Libanon, Jordanien und Syrien registriert. UNRWA übernimmt auch quasi-staatliche Aufgaben, unterhält etwa ein eigenes Schul- und Bildungssystem. Die israelische Regierung wirft UNRWA vor, kein neutraler Akteur zu sein und hat dem Palästinenserhilfswerk ab 2025 verboten, in Israel zu arbeiten. Deutschland ist der zweitgrößte Geldgeber von UNRWA mit mehr als 200 Millionen Euro im vergangenen Jahr.
Dort würden die Gesundheitsversorgung sowie die Bildungs- und Sozialdienste zusammenbrechen. Aktuell leben rund 650.000 Palästina-Flüchtlinge im Westjordanland und in Ostjerusalem, von denen 240.000 besonders schutz- und hilfsbedürftig sind. UNRWA betreibt dort 96 Schulen für knapp 50.000 Schülerinnen und Schüler sowie 43 Kliniken. Im Westjordanland ist UNRWA bei einer ohnehin äußert angespannten Wirtschaftslage der zweitgrößte Arbeitgeber. Durch die Gesetze könnten über 4000 Mitarbeitende vor Ort ihren Job verlieren.
Israel argumentiert, UNRWA sei eng mit der Hamas verflochten. Mehrere UNRWA-Mitarbeiter waren offenbar am 7. Oktober beteiligt.
Wir nehmen diese Vorwürfe sehr ernst. Ein unabhängiger Untersuchungsausschuss der Vereinten Nationen hat diesbezüglich 19 Fälle untersucht. Eine Person wurde komplett freigesprochen, bei neun weiteren wurde das Verfahren eingestellt, weil die Beweise nicht ausgereicht haben, um eine Mittäterschaft zu belegen. Bei den verbliebenen neun Fällen könnten die vorgelegten Beweise, sofern sie authentifiziert und bestätigt werden, auf eine Beteiligung am 7. Oktober hinweisen. Den betreffenden Mitarbeitern wurde dennoch bereits unmittelbar und fristlos gekündigt. Bei neun von insgesamt 13.000 UNRWA-Mitarbeitenden im Gazastreifen gibt es aber eine Diskrepanz zur Darstellung von UNRWA als angebliches "Terrorhilfswerk".
Dass unter diesen 13.000 Personen auch Terroristen sind, lässt sich also nicht vermeiden?
UNRWA hat null Toleranz gegenüber Hassreden, Diskriminierung und Gewalt. Aber null Toleranz bedeutet nicht null Risiko. UNRWA operiert in einem komplexen, stark gespaltenen und emotional aufgeladenen Kontext. Wir haben Verfahren und Regeln, die es ermöglichen, die Gefahr so weit wie möglich zu verringern. Dabei sind wir jedoch auch auf Kooperation mit den Behörden in den Gastländern und, im Falle der besetzten palästinensischen Gebiete, mit dem Staate Israel angewiesen. So haben wir in den vergangenen 15 Jahren einmal pro Jahr die Liste unserer gesamten Mitarbeitenden mit Israel geteilt, seit diesem Jahr sogar quartalsmäßig. Als humanitäre Organisation hat UNRWA keine polizeilichen Kapazitäten. Wir ersuchen daher israelische Behörden, uns Bedenken bezüglich krimineller oder terroristischer Aktivitäten mitzuteilen, damit wir unseren Teil beitragen können, diese zu unterbinden. Bisher haben wir aber nie eine Reaktion auf die Listen bekommen.
Ein anderer Prüfungsbericht hat UNRWA "Probleme mit der Neutralität" bescheinigt. Kann UNRWA überhaupt neutral sein, wenn ein Großteil der Mitarbeiter Palästinenserinnen und Palästinenser sind?
Als Organ der Vereinten Nationen und humanitäre Organisation arbeitet UNRWA auf der Grundlage des für alle UN-Einrichtungen geltenden Rechtsrahmens, einschließlich der Charta der Vereinten Nationen, und im Einklang mit internationalen Grundsätzen humanitärer Hilfe: Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und operative Unabhängigkeit. Die Einhaltung des geltenden Rechtsrahmens sowie der humanitären Grundsätze ist von entscheidender Bedeutung, da sie UNRWA den Raum, den Zugang und die Akzeptanz verschaffen, die das Hilfswerk benötigt, um ihr Mandat zum Schutz und zur Unterstützung von Palästina-Flüchtlingen zu erfüllen. Der Bericht unter der Leitung der ehemaligen französischen Außenministerin Catherine Colonna hat festgestellt, dass UNRWA bereits über robuste Mechanismen zur Einhaltung des Grundsatzes der Neutralität verfügt. Der Verbesserungsbedarf bezieht sich unter anderem auf interne Aufsicht, Governance-Aspekte und die Neutralität im Schulwesen. UNRWA hat sich zur Umsetzung aller Empfehlungen verpflichtet.
Die fehlende Neutralität im Schulwesen ist ein häufig vorgebrachter Vorwurf. Seit Jahren werden immer wieder Schulbücher aus UNRWA-Schulen publik, die antisemitische und gewaltverherrlichende Inhalte enthalten. Wie passt das mit den "robusten Mechanismen" zusammen?
Zunächst ist klarzustellen, dass es sich dabei nicht um UNRWA-Schulbücher handelt, sondern um Materialien aus dem jeweiligen Gastland. Das ist gängige Praxis in der internationalen Flüchtlingsbildung, um Kontinuität im Unterrichtssystem und die Anerkennung von Abschlüssen zu gewährleisten. In unserem Fall nutzt UNRWA Schulbücher der Palästinensischen Autonomiebehörde, auch in Gaza, wo aber aufgrund des Krieges seit über einem Jahr überhaupt kein Unterricht stattfindet.
Das heißt, UNRWA hat keinen Einfluss auf die Inhalte?
UNRWA versucht schon lange, neue Schulbücher einzuführen und ist dazu mit der Palästinensischen Autonomiebehörde intensiv im Austausch. Solange das nicht möglich ist, tun wir unser Bestes, um zu gewährleisten, dass Inhalte trotzdem im Einklang mit UN-Standards vermittelt werden. Dafür gibt es eine eigene Abteilung, die alle an unseren Schulen verwendeten Bücher von vorne bis hinten durchschaut, klassifiziert und den Lehrkräften Handreichungen gibt, wie sie damit umgehen sollen. Wir sensibilisieren etwa für internationale Positionen zu Grenzverläufen oder halten Lehrerinnen und Lehrer an, mit Äpfeln und Birnen zu rechnen und nicht Rechenbeispiele mit Märtyrern aufzugreifen. Der Anteil rassistischer oder gewaltverherrlichender Inhalte in den Schulbüchern ist verhältnismäßig klein, aber es gibt ihn. Wir können aktiv darauf einwirken, dass diese Inhalte nicht unterrichtet und einzelne Seiten übersprungen werden. Sie einfach herausreißen können wir aber nicht.
Warum nicht?
Dann würde die Gefahr bestehen, dass die Menschen vor Ort das als ausländische Einflussnahme verstehen und protestieren. Humanitäre Organisationen in Konfliktregionen sind darauf angewiesen, eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung zu haben, um adäquat zu arbeiten und alle notdürftigen Menschen zu versorgen. Diese Akzeptanz hat in der Region nur UNRWA. Wenn man nicht will, dass islamistische Fundamentalisten wie die Hamas die Schulbildung bestimmen, sind wir derzeit die einzige Alternative.
Wenn die Vorwürfe gegen UNRWA ihrer Aussage nach nicht so schwer wiegen, wie es dargestellt wird: Was bezweckt die israelische Regierung dann mit den Gesetzen? Immerhin hat UNRWA bislang zahlreiche Aufgaben übernommen, zu denen Israel als Besatzungsmacht ansonsten verpflichtet wäre.
Dass die Vorwürfe nicht schwerwiegend sind, habe ich nicht gesagt. Wir nehmen sie wirklich sehr ernst. Aber wir vermuten, dass es nicht nur um Bedenken bezüglich der Neutralität geht. Israel wirft UNRWA vor, den Status von Palästina-Flüchtlingen zu verlängern und ihre Rechte auf Rückkehr bzw. Kompensation zu vertreten. Das geht zurück auf eine UN-Resolution von 1948, ein Jahr bevor UNRWA überhaupt gegründet wurde. UNRWA vergibt keinen Flüchtlingsstatus und hat auch kein politisches Mandat, Verhandlungen zu führen. Unser Auftrag ist es lediglich, Palästina-Geflüchtete so lange zu unterstützen, bis es eine gerechte und dauerhafte Lösung für ihre Notlage gefunden ist. Das wird immer wieder falsch dargestellt, um UNRWA zu diskreditieren und die Rolle des Hilfswerks zu delegitimieren. Mit der Abschaffung von UNWRA sollen die Rechte von Palästina-Flüchtlingen auf Rückkehr oder Kompensation endgültig unterbunden werden. Denn Flüchtlingsfrage ist ein zentraler Parameter einer zu verhandelnden Friedenslösung, neben dem Status von Jerusalem, dem Verlauf der Grenzen oder dem Zugang zu Ressourcen.
Was bedeutet das für eine Zweistaatenlösung, wie sie von weiten Teilen der internationalen Gemeinschaft gefordert wird?
Das wäre ein enormer Rückschlag. Der Versuch, die Parameter für eine gerechte und dauerhafte Lösung einseitig zu verschieben, untergräbt palästinensische Selbstbestimmung, widerspricht Resolutionen der Vereinten Nationen und verstößt gegen Völkerrecht. Die Attacken gegen UNRWA richten sich daher auch gegen die internationale Gemeinschaft und das multilaterale System als Ganzes. Ohne UNRWA würde der Übergang von einem so dringend benötigten Waffenstillstand hin zu einer Form palästinensischer Selbstverwaltung gefährdet, die unerlässlich für die Zweistaatenlösung ist. Auch die Palästinensische Autonomiebehörde kann nicht leisten, was UNRWA leistet.
Besteht die Möglichkeit, dass die Gesetze doch nicht wie geplant im Januar 2025 in Kraft treten?
Aktuell haben wir keinen Anlass zu glauben, dass die Gesetze nicht in Kraft treten. Wir nutzen die wenige Zeit, die uns bleibt, um die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen zu erreichen, damit sie sich dafür einsetzen, dass UNRWA das Mandat, das es von der Generalversammlung erhalten hat, auch umsetzen kann. Die humanitäre Arbeit läuft derzeit auf operativer Ebene weiter, auf politischer Ebene gibt es zu Israel keinen Kontakt. Das macht es auch unmöglich, das so dringend benötigte gegenseitige Vertrauen wieder aufzubauen - oder überhaupt damit beginnen zu können.
Mit Johannes Gunesch sprach Marc Dimpfel.