In etlichen Bundesländern setzt die Polizei biometrische Videoüberwachung in Echtzeit ein. Nun ist auch Brandenburg mit von der Partie. Aus Sicht von Jurist:innen fehlt dafür jedoch die Rechtsgrundlage. Und das sorgt für Streit in der rot-schwarz-grünen Brandenburger Koalition.
In Brandenburg ist erstmals ein System zur Gesichtserkennung aus Sachsen zum Einsatz gekommen. Das berichtete der rbb am Wochenende.
Nach Angaben einer Sprecherin des brandenburgischen Innenministeriums nahm das Landeskriminalamt des Polizeipräsidiums „das System der Polizei Sachsen im Rahmen der polizeilichen Amtshilfe in einem Fall im Jahr 2024 im Rahmen der Bekämpfung der Eigentumskriminalität in Anspruch“. Der Einsatz sei richterlich genehmigt worden, so die Sprecherin.
Juristen kritisieren jedoch, dass für den Einsatz der biometrischen Videoüberwachung die notwendigen Rechtsgrundlagen fehlten. Und der grüne Koalitionspartner in der Brandenburger Landesregierung fordert Innenminister Michael Stübgen (CDU) dazu auf, „hier sofort lückenlos aufzuklären, in welcher Form automatische Gesichtserkennung in Brandenburg zum Einsatz kam und wie Betroffene ihre Rechte geltend machen können“.
Mobile biometrische Videoüberwachung in Echzeit
Die aus Sachsen stammenden Systeme sind mit hochauflösenden Kameras ausgestattet. Sie sind entweder fest installiert, wie etwa das „Personen-Identifikations-System“ (PerIS) der Bremer Unternehmensgruppe OptoPrecision in Görlitz und Zittau. Oder sie werden als mobile Variante in Fahrzeugen eingebaut, die unauffällig am Straßenrand parken.
In beiden Fällen erfasst das System sämtliche Fahrzeuge und deren Insass:innen sowie Passant:innen. Die gescannten Kennzeichen und Gesichtsbilder gleicht die Polizei auch in Echtzeit mit Bilddaten ab, die zuvor aufgrund von Gerichtsbeschlüssen in das System eingepflegt wurden. Ein automatischer Abgleich mit anderen polizeilichen oder europäischen Informationssystemen findet angeblich nicht statt.
Begehrtes Überwachungssystem
Das Überwachungssystem ist offenbar begehrt und wird inzwischen in mehreren Bundesländern eingesetzt – unter anderem in Nordrhein-Westfalen, Brandenburg, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Berlin, wie aus einer Kleinen Anfrage der sächsischen Landtagsabgeordneten Juliane Nagel (Linkspartei) an die dortige Landesregierung hervorgeht.
Im Fall von Berlin war der Einsatz bereits im April eher zufällig bekannt geworden. Demnach setzte die dortige Polizei in zwei großen Ermittlungsverfahren Methoden zur automatischen Gesichtserkennung ein.
Als Rechtsgrundlage für den Einsatz nennt die Berliner Staatsanwaltschaft die Paragrafen 98a und 98b der Strafprozessordnung. Sie erlauben eine Rasterfahndung bei einer Straftat „von erheblicher Bedeutung“, wenn andere Methoden „erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert“ wären. Danach dürfen alle von der Technik erfassten Personen „mit anderen Daten maschinell abgeglichen werden“.
Die sächsische Polizei hat bislang in 21 Ermittlungsverfahren Gesichtsbilder automatisiert abgeglichen, wie eine Beschwerde der Piraten-Politikerin Anne Herpertz bei der sächsischen Datenschutzbeauftragten ergab. Der Einsatz erfolgte ohne Kenntnis der Datenschutzbehörde.
Weitere Angaben macht die dortige Polizei nicht. Gemäß einer Polizeivorschrift unterliege die „Observationstechnik für verdeckte Maßnahmen“ der Geheimhaltung, so ein Polizeisprecher.
Fachleute kritisieren fehlende Rechtsgrundlage
Gesichtserkennungssysteme sind unter Bürgerrechtler:innen und Datenschützer:innen hochumstritten. Und aus Sicht von Fachleuten fehlt für ihren Einsatz die Rechtsgrundlage.
So kritisiert etwa Christian Rückert, Professor für IT-Strafrecht an der Universität Bayreuth gegenüber der Zeit Online, dass es einen erheblichen Grundrechtseingriff darstelle, wenn bei Observationen mit Videokameras sämtliche Personen im Umkreis ins polizeiliche Raster gerieten. „Die Polizei darf nicht einfach unbeteiligte Personen und Autofahrer auf der Straße filmen und ihre Gesichter mit einer Datenbank biometrisch abgleichen“, so Rückert.
Auch Tobias Singelnstein, Professor für Strafrecht an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt, kritisiert, dass eine solche Maßnahme „in erheblichem Maße in die Rechte von völlig Unbeteiligten“ eingreife. Zudem sehe die Strafprozessordnung eine solch weitgehende Maßnahme rechtlich nicht vor, betont Singelnstein.
Simone Ruf von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) fordert gegenüber Zeit Online eine öffentliche Debatte über den Einsatz von PerIS und ähnlichen Systemen. „Dass die Polizeibehörden so eine Technologie ohne passende Rechtsgrundlage einsetzen, geht in einem Rechtsstaat einfach nicht“, sagt die Juristin. Sie befürchtet vor allem, „dass der Einsatz dieser Technologie unschuldige Menschen einschüchtert, ihre Grundrechte wahrzunehmen, wie zum Beispiel an Versammlungen teilzunehmen“.
Grüne fordern lückenlose Aufklärung
Innerhalb der rot-schwarz-grünen Landesregierung in Brandenburg führt der Einsatz der sächsischen Überwachungstechnik zu koalitionsinternen Spannungen. Dabei spielt auch die Debatte um das System Kesy eine Rolle, mit dem Brandenburg jahrelang Autokennzeichen gescannt und gespeichert hatte. Im Juli 2022 erklärte das Landgericht Frankfurt (Oder) die automatische Kennzeichenerfassung für rechtswidrig.
Wohl auch deshalb betonte das brandenburgische Innenministerium am Wochenende, dass es sich „bei dem in Rede stehenden System […] nicht um Kesy 2.0 oder dessen Einführung durch die Hintertür“ handele.
Die innenpolitische Sprecherin der grünen Landtagsfraktion, Marie Schäffer, gibt sich damit jedoch nicht zufrieden: „Nach mehreren Niederlagen vor Gericht für die unzulässige Vorratsdatenspeicherung von Autokennzeichen auf Brandenburger Autobahnen wurde nun offenbar ein noch problematischeres System eingesetzt, bei dem massenhaft Unschuldige gefilmt und ihre Gesichter automatisiert abgeglichen wurden.“
Ampel-Koalition will biometrische Echtzeit-Überwachung verbieten
Den Einsatz biometrischer Überwachungssysteme könnte der Bundestag strenger regulieren. Dazu müsste er zum einen die Strafprozessordnung reformieren. Zum anderen ist am 1. August die KI-Verordnung der Europäischen Union in Kraft getreten. Es enthält als umfassendes Gesetz zur Regulierung Künstlicher Intelligenz auch Regeln für den Einsatz biometrischer Systeme. Bislang erlaubt die europaweite Regelung biometrische Überwachungstechniken wie Gesichtserkennung teilweise – mitunter sogar in Echtzeit, etwa bei einer „konkreten, erheblichen und unmittelbaren Gefahr für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit natürlicher Personen oder einer tatsächlichen und gegenwärtigen oder tatsächlichen und vorhersehbaren Gefahr eines Terroranschlags“.
Da die EU-Verordnung den Strafverfolgungsbehörden damit große Schlupflöcher bietet, hatten die Ampel-Fraktionen im Bundestag bereits im Frühjahr zugesichert, die KI-Technologie auf nationaler Ebene strenger zu regulieren, als es das EU-Gesetz vorsieht. Auch im Koalitionsvertrag der Ampel heißt es: „Flächendeckende Videoüberwachung und den Einsatz von biometrischer Erfassung zu Überwachungszwecken lehnen wir ab. Das Recht auf Anonymität sowohl im öffentlichen Raum als auch im Internet ist zu gewährleisten.“
Außer erneuten Beteuerungen, dass sie ihren Worten Taten folgen lassen wolle, hat die Ampel hier aber noch nichts zustande gebracht.
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