4 months ago

Ukraine hält Kursk - aber wozu?: Die Offensive zeigt Kiews Verzweiflung



Die ukrainische Armee verkauft die Kursker Offensive als Erfolg. Doch führt der Schachzug militärisch nicht weiter. Was zählt, ist womöglich etwas anderes: Der besetzte russische Boden als Faustpfand, wenn es für Kiew eng wird.

Die ersten Meldungen aus westlichen Hauptstädten liefen schon in den Nachrichten ein, da war der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj noch gar nicht in Ramstein angekommen. Am Freitag reiste er in die Pfalz, wo sich die Vertreter westlicher Unterstützerstaaten in losen Abständen persönlich treffen. Und bald schon hieß es: 12 Panzer-Haubitzen bekommt Kiew aus Berlin, 650 Hyperschall-Raketen zur Luftverteidigung aus London, ein Patriot-System aus Bukarest. US-Präsident Joe Biden hat ein zusätzliches Hilfspaket über 250 Millionen Dollar unterzeichnet.

Läuft es für Kiew? Eher nicht.

Und nun meldet der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, "die Moral nicht nur des Militärs, sondern der gesamten ukrainischen Bevölkerung" habe sich "deutlich verbessert". Olexander Syrskyj führt das auf das Vorrücken der Ukrainer Anfang August auf westrussisches Gebiet zurück. Der Vorstoß der Streitkräfte im Raum Kursk zeigt aus seiner Sicht Wirkung, und zwar im Donbass: "In den vergangenen sechs Tagen hat der Feind in Richtung Pokrowsk keinen Meter Boden gewonnen. Mit anderen Worten, unsere Strategie funktioniert."

Kurz: Haubitzen und Hyperschall aus dem Westen und im erbittert umkämpften Pokrowsk halten die Truppen den Angreifer in Schach. Läuft es also für Kiew?

Eher nicht. Obwohl Syrskyj offiziell eine militärische Strategie zeigen will, eine erfolgreiche Offensive in Kursk sowie erfolgreiche Verteidigung von Pokrowsk, können die Ukraine von Glück sagen, dass ihre Stellungen im Donbass noch nicht zusammengebrochen sind. Denn um die offensiven Ukrainer auf russischem Gebiet abzuwehren, hat der Kreml keine Einheiten aus der Region vor Pokrowsk abgezogen. Dort gehen die Russen mit unverminderter Stärke gegen die ukrainischen Truppen vor.

Die ukrainische Armee wiederum musste in der Tat ihre besten Leute für die Offensive Anfang August von anderen Frontabschnitten abziehen. Es sind Eliteeinheiten, die nun in der Verteidigung fehlen. Syrskyjs Theorie, dass allein die Freude über den Offensiverfolg von Kursk die Verteidiger im Donbass zu Höchstleistung motiviert, wirkt wenig überzeugend.

Die Ukraine kann Kursk noch halten. Aber wozu?

Seit einem knappen Monat halten die Ukrainer das kleine Gebiet jenseits der Grenze mit Hügeln, Wäldern und an einen Fluss grenzend. "Starkes Gelände, das man gut verteidigen kann", schätzt der Sicherheitsexperte Gustav Gressel die Lage ein. Darum sieht er die Chance, das Gelände auch mit weniger prominenten und schlechter ausgestatteten Truppen noch eine Zeit lang zu halten.

Was fehlt, ist das langfristige militärische Ziel. Als Ablenkungsangriff war der Einsatz durchaus erfolgreich, da er die Russen deutlich auf dem falschen Fuß erwischte. Laut Gressel wäre es militärisch "dann auch gut gewesen, wenn man nach fünf Tagen wieder rausgeht und sagt, das war's". In dem Fall hätte Kiew trotzdem den Effekt erreicht, dass die Russen umfänglich Truppen hätten verlegen müssen, während die ukrainischen Soldaten schon wieder auf dem Rückweg in ihre Verteidigungsstellungen gewesen wären. Doch Kiews Truppen sind geblieben. "Die militärische Logik hinkt der politischen Logik hinterher", meint Gressel.

Die politische Logik, die der Wissenschaftler vom European Council on Foreign Relations sieht, ist: Das besetzte Gebiet wäre ein Faustpfand, "wenn man in Waffenstillstandsverhandlungen gezwungen wird ohne eine westliche Rückendeckung für elementare Punkte". Die Offensive von Kursk ist in Kiews Selbstdarstellung ein kühner und erfolgreicher Schachzug, aber in Wirklichkeit womöglich ein Akt der Verzweiflung?

Die Lage in der Ukraine ist dramatisch. Die Truppen an der Front im Donbass wehren sich dagegen, im wichtigen Logistik-Knotenpunkt Pokrowsk von den Russen eingekesselt zu werden. Die ukrainische Bevölkerung leidet bereits seit Wochen unter massiven Luftangriffen auf zivile Versorgung, muss immer wiederkehrend Stromausfälle händeln. Gnadenlos attackiert die russische Armee auch Orte, an denen sich viele Menschen aufhalten. Jüngst verstärkte Russland diese Angriffe.

Deutschland halbiert die Ukraine-Hilfe

Zugleich reichen die Zusagen der Partner bei weitem nicht, schon gar nicht, um die Russen zurückzudrängen. Die regulären Hilfen der USA laufen bald aus. Vor diesem Hintergrund reiste Selenskyj nach Ramstein. Ein ungewöhnlicher Schritt, ein Zeichen dafür, dass die Zeit drängt. Der Präsident richtet den Blick auf mögliche sechs Milliarden Dollar Militärhilfe, die Teil eines großen US-Hilfspakets aus dem April sind, jedoch bislang nicht verwendet wurden. Nimmt Washington die Finanzmittel bis Ende September nicht in Anspruch, dann verfallen sie, weil in den USA das Haushaltsjahr dann endet. Deutschland hat seine Ukraine-Hilfe im Haushalt für das kommende Jahr von jetzt acht auf dann vier Milliarden Euro halbiert und nimmt damit noch eine gute Position ein im Vergleich mit vielen anderen Europäern.

Ausgleich für die Kürzungen soll es durch die Zusage der G7-Staaten geben, für die Ukraine einen Groß-Kredit aus den Zinsen für eingefrorene russische Vermögen erwirken zu wollen. 50 Milliarden Dollar soll der G7-Topf beinhalten. Doch ob das Vorhaben gelingt und wenn ja, in welcher Höhe, ist noch längst nicht abzusehen. Egal, welche Rechnung Selenskyj aufstellen wird, es sind zu viele unbekannte Größen dabei.

Derzeit sieht der Westen dabei zu, wie die Ukraine immer stärker in Bedrängnis gerät. Statt bei der Unterstützung massiv aufzusatteln, wurden im August aus Washington andere Gerüchte gemeldet. Die "Washington Post" berichtete von US-Plänen, die ukrainische und die russische Seite zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand zu bewegen. Gemäß einer anonymen, "mit den Vorgängen vertrauten" Quelle, sollte Doha Ort der Verhandlungen sein, die Kataris wollten als Vermittler abwechselnd mit der einen und der anderen Seite reden.

Dann war das Thema Doha vom Tisch

Bestätigt wurde diese Meldung nie, doch würde sie erklären, warum die Ukrainer an den besetzten Gebieten auf russischem Terrain festhalten. Zunächst hätte die Offensive der Verhandlungsidee den Boden entzogen. Das Thema Doha war laut "Washington Post" danach erstmal vom Tisch. Vor dem Hintergrund, dass womöglich aus den USA mehr Druck auf Kiew ausgeübt wird als offiziell dargestellt, kann der ukrainische Vorstoß eine weitere Funktion haben: "Das ist ein Faustpfand für mögliche Verhandlungen", sagt Gressel. Er hält die anonymen Aussagen über die geplanten Verhandlungen für plausibel.

Russlands Präsident Wladimir Putin zeigt bislang allerdings keine Bereitschaft für Verhandlungen, die auch die russisch besetzten Gebiete umfassen würden. In Washington hat man nach Gressels Ansicht "naive Vorstellungen von den Zielen und der Entschlossenheit Putins, diesen Krieg bis zum bitteren Ende zu führen".

Abseits der Frage von besetzten Gebieten, die Kiew womöglich an den Kreml abtreten müsste, fehlen für die Ukrainer vor allem auch handfeste westliche Garantien, dass der Krieg nicht in drei oder fünf Jahren wieder neu aufflammt. Sie brauchen die Sicherheit, dass Putin die Ukraine nicht nochmals ohne Strafe und ohne Risiko angreifen könnte.

Zu erreichen wäre das mit einem NATO-Beitritt oder mit einer Sicherheitsgarantie, die weit über die Verträge hinausgeht, die inzwischen bilateral zwischen der Ukraine und einigen Unterstützerstaaten abgeschlossen wurden. Doch US-Präsident Joe Biden hat für seine Amtszeit beides ausgeschlossen. Kamala Harris, die demokratische Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen, bleibt in ihren Formulierungen vage; Donald Trump als ihr republikanischer Konkurrent äußert immer mal das Vorhaben, den Ukrainekrieg binnen eines Tages zu beenden.

So könnte die Ukraine auf einen Zustand zusteuern, in dem sie verhandeln muss, ihr aber diplomatische Druckmittel gegen Russland fehlen. Mit den ukrainisch besetzten Gebieten in Kursk könnte sie womöglich von der russischen Seite Zugeständnisse erzwingen. "Mit den gegenwärtigen Kräften, mit der gegenwärtigen Unterstützung", so Gressel, "hatte die Ukraine nicht die Chance, andere Druckmittel aufzubauen als sich jetzt schnell Kursk zu holen".

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