7 hours ago

Überwachungsagenda „Going Dark“: Let’s talk (to) business



Nun warnt sogar ein neoliberaler Thinktank vor der EU-Überwachungsagenda und ihrer Auswirkung auf die Wirtschaft. Letztlich könnte die europäische Wirtschaftslobby zum Sargnagel der Überwachungspläne werden, kommentiert Konstantin Macher.

Junge Mechanikerin, die einen Laptop benutzt, während sie einen Automotor in einer professionellen Autowerkstatt überprüft.Die Überwachungspläne der EU könnten die Wirtschaft beschädigen, warnt ein neoliberaler Thinktank – und Netzaktivist*innen sollten jetzt aufhorchen, so Konstantin Macher. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / imagebroker

Konstantin Macher ist Politikwissenschaftler und Digitalrechtsaktivist. Er hat unter anderem an Kampagnen zu netzpolitischen Themen wie ‚Chatkontrolle STOPPEN!‘ gearbeitet und ist Vorstandsmitglied bei der Digitalen Gesellschaft e.V.. Er ist auf Mastodon als @pneutig@eupolicy.social erreichbar.


Seit Jahren beschäftigen wir uns als Zivilgesellschaft damit, den Angriff auf Verschlüsselung in Form der Chatkontrolle abzuwehren. Seit mehr als zwei Jahrzehnten müssen wir den Überwachungszombie Vorratsdatenspeicherung immer wieder ins Grab zurückklagen. Und gerade haben Überwachungspolitiker*innen auf EU-Ebene unter dem Dach einer “Going Dark”-Gruppe die nächste Runde von Angriffen auf unsere Privatsphäre gestartet.

Dabei werden sie in ihren Forderungen aber kein bisschen kompromissbereiter oder gar vernünftig, sondern immer extremer. Vorratsdatenspeicherung könnte europaweit nicht “nur” für Internetanbieter kommen, sondern auch für IoT-Geräte. Aus Hintertüren werden sperrangelweite Vordertüren. Diese digitalpolitische Agenda wurde treffend als „Unsicherheit by design“ charakterisiert.

Doch jetzt erhält diese Geschichte einen spannenden Twist: Die Vorstöße gegen Verschlüsselung bekommen Gegenwind aus der Wirtschaft. Das ist signifikant und bevor ich im Detail darauf eingehe, wie weitreichend das ist, ein kleiner Diskurs zu der EU, Wirtschaftspolitik und Lobbyismus.

Der Zaubertrick von Wirtschaftslobbyismus heißt „SME“

Die Europäische Union betont gerne ihre Rolle als Wertegemeinschaft. Da ist auch teilweise etwas dran, denn wer nicht vorher durch die menschenfeindliche Politik der „Festung Europa“ an den EU-Außengrenzen stirbt, kann sich innerhalb der Staatengemeinschaft auf Rechtsstaatlichkeit und Grundfreiheiten berufen.

So hat der Europäische Gerichtshof wiederholt die extremsten Ausformungen von Unsicherheits- und Überwachungspolitik eingehegt, beispielsweise bei Urteilen gegen die Vorratsdatenspeicherung. Gleichzeitig ging es bei der Europäischen Union auch immer schon um Wirtschaftspolitik. Und entsprechend mächtig wirken dort Akteur*innen der Wirtschaftslobby mit.

Das magische Wort für europäischen Wirtschaftslobbyismus heißt „SME – Small and Medium Enterprises“ (im Deutschen KMU: Kleine und Mittlere Unternehmen). Es ist schwieriger, Sympathie für deine Lobbyarbeit im Namen von Großkonzernen zu bekommen, als wenn du sagst, du sprichst im Namen kleiner Betriebe, des „Mittelstands“ oder von sogenannten „Familienunternehmen“.

Das geht so weit, dass die EU 2009 den „Small Business Act“ verabschiedet hat. Klingt wie ein Gesetz, ist aber eigentlich nur eine rechtlich nicht bindende Erklärung. Und darin steht, dass die EU-Kommission alle ihre geplanten Gesetze auf ihre Auswirkung auf SMEs überprüfen soll. Seit 2011 gibt es darum die „SME Envoys“ (für Deutschland aktuell die Generaldirektorin für Mittelstandspolitik im Bundeswirtschaftsministerium), welche im Namen von SMEs das Berücksichtigen von Wirtschaftsinteressen in der Arbeit der EU-Kommission institutionalisiert. Mit der „SME Strategy“ der EU-Kommmission aus dem Jahr 2020 wurde dann noch ein „SME Test“ und „SME Filter“ eingeführt.

Das bedeutet in der Praxis: Die EU-Kommission soll – „unterstützt“ durch den Draht zur Wirtschaft – immer prüfen, ob sich geplante Gesetze irgendwie auf Unternehmen auswirken könnten und das dann berücksichtigen. Sprich: bloß nicht zu viele Verpflichtungen wie Bürokratie, Umweltschutz oder Arbeiter*innenrechte. Wirtschaftslobbyismus nutzt diesen Hebel, um auf europäische Gesetzgebung Einfluss zu nehmen.

Hintertüren zur Überwachung sind schlecht für die Wirtschaft

Was hat das jetzt mit der europäischen Überwachungsagenda zu tun? Letzte Woche ist ein bemerkenswerter Bericht des „Centre for European Policy“ (cep) erschienen, der sich ausführlich mit der drohenden Massenüberwachung beschäftigt. Das cep ist ein Ableger der „Stiftung Ordnungspolitik“ und manchen vielleicht aus der politischen Kabarettsendung „Die Anstalt“ bekannt. In der Folge vom 12. November 2017 und dem dazugehörigen Hintergrundpapier wird das cep in einem Netzwerk neoliberaler Denkfabriken verortet. Nicht unbedingt eine Quelle, auf die ich in der Regel verweisen würde. Dafür ist sie aber anschlussfähig bei der Politik von Mitte bis weit Rechts – also auch bei einem Großteil der Abgeordneten in den aktuellen politischen Mehrheitsverhältnissen in Deutschland und der EU.

Der cep-Bericht mit dem Titel „Security and Trust: An Unsolvable Digital Dilemma?“ befasst sich mit den überwachungspolitischen Intitativen Going Dark, Chatkontrolle und Vorratsdatenspeicherung. Zum einen kommt der Bericht – auch unter Berufung auf die Argumentation von Digitalrechtsorganisationen und Datenschutzbehörden – zum Schluss, dass diese Überwachungsvorschläge insgesamt der IT-Sicherheit („Cybersicherheit“) schaden und europäischen Grundrechten widersprechen würden.

Wirklich spannend wird es zum anderen aber durch die Argumentation mit Wirtschaftsinteressen. Die Autor*innen verwenden dafür Sprache und Modelle aus den Wirtschaftswissenschaften. Mit spieltheoretischen Überlegungen zeigen sie, welche perversen Anreize verpflichtende Hintertüren in Verschlüsselung schaffen würden: Feindliche Staaten und Cyberkriminelle erhielten asymmetrische Vorteile, während Nutzer*innen und Unternehmen die Kosten der geschwächten Schutzmaßnahmen tragen müssten.

Ich spare mir weitere Ausflüge durch den verwendeten Jargon wie „negative-sum game“, „sub-optimal equilibrium“ und den „trade off“ bei strategischer Autonomie. Der Bericht führt nämlich eine Statistik an, die es in sich hat: 62 Prozent von Kleinen und Mittleren Unternehmen erwarten unter den Bedingungen staatlich verpflichtender Hintertüren, weniger Stellen zu besetzen, 58 Prozent erwarten Investitionskürzungen. Der Preis dieser Überwachungspolitik sei am Ende zu hoch, so die Autor*innen des cep-Papiers. Sie warnen vor einem „chilling effect on innovation and SME investment“.

Im Rahmen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik ist der aktuelle Kurs für eine radikale Massenüberwachung der Bevölkerung also eigentlich ein no-go.

Ich glaube, dieser Bericht ist genau deshalb wichtig. Wir sollten ihn in unserem Interesse verwenden: Jede*r von uns kann Abgeordnete aus dem eigenen Wahlkreis im Bundestag oder im Europaparlament kontaktieren und unsere Anliegen zur Sprache bringen. Als Zivilgesellschaft haben wir zu vergleichbaren Aktionen immer wieder mobilisiert, beispielsweise in Deutschland als Kampagne „Chatkontrolle Stoppen!“ mit der Unterstützung unserer europäischen Verbündeten von epicenter.works aus Österreich.

Die meisten von uns betonen dabei aber vermutlich nicht die Gefahren für „die Wirtschaft“, sondern für IT-Sicherheit und Demokratie. Wer wieder Chatkontrolle und andere digitale Schwachstellen fordert, sollte damit konfrontiert werden, warum er*sie den Betrieben im Wahlkreis so einen wirtschaftlichen Schaden zufügen möchte.

Wirtschaft kann wichtige Säule im Widerstand gegen Überwachung sein

Die zeitgenössischen Angriffe auf Verschlüsselung reihen sich in eine historische Kontinuität ein, die wir „Crypto Wars“ nennen. Wir erinnern uns: US-amerikanische Geheimdienste wollten in den 1990er-Jahren Kommunikationsdienste verpflichten, einen sogenannten „Clipper Chip“ zu installieren. Durch diesen etwa von Herstellern von Telefonanlagen in der Hardware verbauten Chip sollten Behörden Zugriff auf vertrauliche Kommunikation erhalten.

Der Politikwissenschaftler Matthias Schulze hat 2017 in einer Untersuchung des Diskurses dazu die Argumentationen in der Clipper-Chip-Debatte der 1990er-Jahre analysiert und mit einer weiteren Episode der Crypto Wars verglichen – dem Versuch des FBI, im Jahr 2016 Apple zum Brechen von Verschlüsselung zu verpflichten.

Die historischen Parallelen in dieser Debatte sind für mich immer wieder erstaunlich. Schulze verfolgt die Geschichte des „Going Dark“-Narrativs sogar bis zu Warnungen des Direktors des US-Geheimdienstes NSA von 1979 (!) vor öffentlichen Diskussionen über Kryptographie und der potentiell zunehmenden Nutzung von Verschlüsselung zurück. 1979, 1993, 2016 oder eben jetzt 2025: Befürworter von Überwachung behaupten immer wieder, der Staat sei kurz davor, die Kontrolle zu verlieren im Kampf um nationale Sicherheit oder gegen Drogenschmuggel, Terrorismus und Pädokriminalität. Alles für die Sicherheit.

Differenzierter Widerstand

Auf der Seite des Widerstands gegen die Überwachungspläne in den Diskursen um 1993 und 2016 hat Schulze eine heterogenere Argumentation identifiziert, die über den bloßen Verweis auf Sicherheit hinausreicht. Diese fußte auf drei Säulen: technische Argumente, Bürger*innenrechte und wirtschaftliche Argumente.

Und genau die sollten wir uns genauer anschauen: Staatlich verpflichtende Hintertüren in Verschlüsselung wären ein Standortnachteil für Firmen im globalen Wettbewerb. Die eigenen Produkte würden dadurch schlechter. Die Pläne wären ein Eingriff in den Markt und teuer. Schulze stellt zudem fest, dass selbst Regierungsvertreter*innen im Jahr 1993 anerkannt hätten, Verschlüsselung sei wichtig zum Schutz sogenannten „intellektuellen Eigentums“.

Der Clipper Chip scheiterte letztlich und noch mehr: Wenig später, im Jahr 1996, leitete der damalige US-Präsident Bill Clinton eine Kehrtwende ein und verfügte per Erlass Änderungen an den damals bestehenden Exportbeschränkungen für Produkte mit Verschlüsselungstechnologie. Sie sollten künftig nicht mehr als als Militärtechnologie reguliert werden, sondern als kommerzielle Güter.

Und jetzt?

Der Widerstand in den Crypto Wars war in den 1990ern divers aufgestellt und das ist er auch heute. Regelmäßig kommen Warnungen aus der Wissenschaft vor den Überwachungsplänen via Chatkontrolle. Sachverständige und Fachverbände beziehen kritisch Stellung im Bundestag. Kinderschutzorganisationen sprechen sich gegen Massenüberwachung aus. Diesmal warnen sogar sogenannte Sicherheitsbehörden vor den Sicherheitsrisiken durch ein Schwächen von Verschlüsselung. Juristische Gutachten dokumentieren die Unvereinbarkeit der Chatkontrolle mit dem Grundgesetz und mit europäischen Grundrechten. In Fußballstadions haben Fans genauso Protest gegen die Pläne zum Scannen ihrer privaten Nachrichten organisiert wie Digitalrechtsaktivisten auf der Straße. Anbieter*innen verschlüsselter Dienste warnen immer wieder vor einer Schwächung ihrer Produkte.

Und jetzt hat es sich also herumgesprochen, dass sogar der europäische Liebling, die Kleinen und Mittleren Unternehmen, von den radikalen Überwachungsplänen wirtschaftlich bedroht sind.

Die politischen Verhältnisse haben sich in den letzten Jahren immer wieder verändert, nicht aber die Realität: Der Angriff auf Verschlüsselung à la Chatkontrolle ist falsch, anlasslose Massenüberwachung à la Vorratsdatenspeicherung ist falsch und das gesamte Narrativ der „Going Dark“-Agenda ist falsch. Um das zu erklären, müssen wir neben unseren Werten und der Technik jetzt aber auch über die Wirtschaft sprechen – und mit ihr. Sei’s drum, das schaffen wir auch.


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