Assad herrschte in einem mafiösen, verrotteten Regime, sagt Syrien-Experte Wieland ntv.de. Der Führer der Islamisten hingegen gebe sich moderat und pragmatisch - nicht nur in seinen Statements, sondern auch im Umgang mit Minderheiten oder Frauen. Bleibt er auf diesem Kurs, dann könnte in Syrien das Leben besser werden. Flüchtlinge könnten in ihre Heimat zurückkehren, denn sie müssten weder Haft noch Folter fürchten.
ntv.de: Herr Wieland, zehn Tage, um einen Diktator zu stürzen, der seit fast 25 Jahren an der Macht war. Kam das so überraschend, wie es vielen jetzt scheint? Oder hat der Westen einfach nur nicht gesehen, was in Syrien vor sich ging?
Carsten Wieland: Ich gehe davon aus, dass die militärische Komponente dieses Überraschungsangriffs aus dem Nordwesten Syriens seit Monaten vorbereitet wurde. In Syrien war die Revolution von 2011 ja quasi eingefroren. Es war nie richtig Frieden. Russland wollte immer glauben machen, Syrien sei ein normales Land, man könne mit Wiederaufbau beginnen, westliche Gelder ins Land geben. Aber das System war mafiös, von innen völlig verrottet. Dann ist die eingefrorene Revolution aufgetaut, in allen Ecken. Nicht nur im Nordwesten. Auch im Süden Syriens haben die Menschen protestiert, haben Apparate entmachtet, Regierungsgebäude besetzt, Gefängnisse gestürmt. Das war eine wahnsinnige Koordinationsleistung. Selbst die Regionalmächte - Erdogan in der Türkei, der Iran, auch Russland und die USA haben das so nicht erwartet.
Die Rebellen haben Gefängnisse gestürmt, um politische Häftlinge zu befreien? Assads Regime hat ja seine Gegner verfolgt, gefoltert, auch jetzt noch.
Syrien war ein Geheimdienststaat, bis gestern. Ich habe noch keine Bilder von den Befreiungen gesehen, aber wenn diese Gefolterten ihre Zellen verlassen, das werden die brutalsten Bilder werden, die wir uns vorstellen können. Das Saydnaya Gefängnis bei Damaskus etwa war berüchtigt als "human slaughterhouse", als menschlicher Schlachthof. Jetzt wurde es befreit. Sie können sich vorstellen, wie viel Zuspruch diese Befreiung in der Bevölkerung bekam.
Sympathien, die Baschar al-Assad in der Bevölkerung nicht mehr hatte?
Assad hat Hunderttausende von Menschen massakriert. Gemessen daran ist das, was jetzt passiert ist - mit aller Vorsicht, dieses Wort zu verwenden - eine fast friedliche Revolution. Es hat einige Tote gegeben, es mussten Menschen im Norden ihre Wohnungen verlassen, weil sich dort Grenzen verschieben. Aber die Regierung, also Premier Mohammed Jalali, ist bereit zur friedlichen Machtübergabe, organisiert in Damaskus. Daran hat wirklich niemand geglaubt.
Viele Videos im Internet zeigen Feiernde in den Straßen von Damaskus, von Homs. Kann man den Bildern glauben?
Ich habe heute Morgen die Nachricht einer christlichen Familie aus Damaskus erhalten: Dort sind alle sehr erleichtert, wie der Aufstand gelaufen ist. Der Diktator war extrem unbeliebt. Selbst Alawiten, die also zur selben Religionsgemeinschaft wie Assad gehörten, haben schon lange gesagt: "Wir sehen hier keinen Staat mehr, wenn wir vor die Tür treten. Wir sehen nur noch Verbrecherbanden." Syrien war ein Bereicherungsstaat, an dem sich verschiedene Milizen bedient haben. Das Assad-Regime war ein Clan, kein Staat. Der Staat war schon längst zerfallen, die Wirtschaft lag am Boden. Die Machterhaltung war ausgelagert an die Hisbollah, den Iran und Russland. Ohne diese drei hätte Assad niemals überlebt. Er dachte, dass das immer so weitergeht. Das ganze Konstrukt ist nun in Rekordzeit zusammengebrochen, weil die Bevölkerung nicht mehr hinter der Regierung stand. Wer Syrien besser kennt, wird davon kaum überrascht sein.
Die Syrer wollten Assad also loswerden, das half dem Aufstand von innen. Aber auch von außen waren einige Faktoren günstig. Welchen Einfluss hatten diese?
Zum Hass auf das Regime kam die für Assad überraschende Haltung der Mächte und Akteure, die er an seiner Seite wähnte. Der Iran hatte Assad zwar in den ersten Tagen Unterstützung zugesagt, aber hat dann nicht Tausende Kämpfer nach Syrien geschickt. Unter anderem auch, weil der Irak sich anders als erwartet verhalten hat. Das Land ist quasi ein Durchgangsgebiet für Milizen des Iran. Nun haben die Iraker aber gesagt: Wir wollen uns da nicht einmischen, wir halten unsere Grenzen dicht. Wir wollen unsere Interessen vertreten und vielleicht sogar ein Ort für Friedensverhandlungen sein.
Und dann konnten die iranischen Milizen Syrien gar nicht erreichen? Weil sie nicht über die irakische Grenze kamen?
Zum Teil, ja. Es gibt auch eine Wüstengrenze, da mögen einige durchgesickert sein. Aber es hat nicht gereicht. Es gab keine systematische Unterstützung Assads durch Tausende von Milizionären des Iran.
Und Russland?
Der Kreml hat zwar auch gesagt, er unterstütze Assad. Dann aber kamen vor ein, zwei Tagen die Meldungen, dass die Russen ihre Schiffe und Personal aus ihrer Militärbasis Tartus abziehen. Es war eigentlich auch klar, dass die Russen mit der Ukraine einen größeren Krieg zu kämpfen haben und Syrien daher eine Nebenrolle spielt.
Auch die Hisbollah hat nicht geliefert. Zu geschwächt nach den Kämpfen mit Israel?
Diese Angst hatte noch bestanden: Hisbollah saß bislang noch in Homs und hätte dort ein Gegner sein können. Aber die Hisbollah hat viele Kämpfer verloren und war durch Israels Angriffe auch strategisch enorm geschwächt. Sie hatte viele Milizionäre abgezogen, aus Homs und gerade auch aus Aleppo. Im Grenzgebiet zum Libanon wird man die Hisbollah in den kommenden Tagen noch sehen. Aber wenn der Hauptsponsor, nämlich Iran, so geschwächt ist, dann findet man kaum Motivation und Kämpfer für einen Gegenschlag. Dazu kommt, wie hasenfüßig Assad sich verhalten hat. Vergleichen Sie den mal mit Selenskyj.
Der hat in der ersten Kriegsnacht ein ikonisches Video aufgenommen.
Von Assad war seit Tagen nichts mehr zu sehen in Damaskus. Schon die ganzen Jahre über fehlte ihm die politische Vision, der Mumm. All diese Faktoren gemeinsam haben die Kampfmoral zerbröseln lassen und zu diesem schnellen Zusammenbruch geführt. Ein letzter Punkt kommt noch hinzu: Das Vorgehen von HTS.
Eine möglichst moderate Strategie?
Ich habe in den vergangenen Tagen viele Berichte verfolgt, aber mir sind keine Massaker begegnet. Stattdessen haben die Rebellen lokale Abkommen geschlossen mit religiösen Minderheiten. HTS garantiert ihnen Schutz. Ja, die iranische Botschaft in Damaskus wurde gestürmt, aber das ist politisch gut nachvollziehbar. Darüber hinaus sehen wir keine Rachefeldzüge, nicht einmal gegen Aleviten, die also Assads Religionsgemeinschaft angehören. Dort war die Angst am größten. Meinem Eindruck nach hat Abu Mohammed al-Dschulani, der HTS-Führer, sich gut beraten lassen. Rein politisch macht er momentan sehr vieles richtig.
Er ist ja allerdings nicht der einzige Akteur dieses Aufstands. Wie blicken Sie auf die von der Türkei unterstützten Gruppen? Sind die eher ein Risiko als HTS?
Tatsächlich haben diese Milizen weniger islamischen Zusammenhalt, kein Moralgebilde innerhalb der eigenen Truppe. Die plündern einfach viel und sind auf Kampf gegen die Kurden getrimmt. Wir müssen abwarten, wie HTS die im Zaum halten kann. Es gab bereits Fälle von Verhaftungen: Die Milizen kamen mit dem Lastwagen an und wollten plündern, wurden dann aber von HTS verhaftet. Derzeit fungiert HTS als eine Art Ordnungsmacht - und hat kein Problem mit den Kurden im Nordosten des Landes.
Darf ich Ihre Sicht auf HTS als vorsichtig positiv verstehen?
Ich will sie nicht beschönigen. Sie sind aus Al-Kaida hervorgegangen. Aber erstens haben sie sich losgesagt und zweitens kämpfen sie seit Jahren schon gegen den Islamischen Staat. Der IS ist eine Terrororganisation, international ausgerichtet. Der hatte nie etwas gegen Assad, sondern gegen den Westen. Dort verübt er Anschläge, rekrutiert Dschihadisten. Al Nusra, aus der HTS dann hervorgegangen ist, hat sich abgespalten und gesagt: Wir konzentrieren uns auf Syrien. Und wir kämpfen gegen Assad. In Idlib haben sie den IS ausgerottet. Anführer verhaftet, wahrscheinlich auch hingerichtet. HTS sind Islamisten, aber - wichtiger Unterschied - konzentriert auf Syrien. Entsprechend bemüht sich die Gruppe seit Jahren, sich moderater zu geben. Aber klar, man darf den Tag nicht vor dem Abend loben, sondern muss schauen, ob dieser Kurs Bestand hat.
In Idlib hat HTS ja schon seit Längerem die Kontrolle. Wie leben die Menschen dort?
Natürlich hat Idlib keine liberalen, demokratischen Strukturen. Aber Frauen können arbeiten und sind im gesellschaftlichen Leben ganz normal vertreten. Die Frage wird sein: Schafft man es, alle Minderheiten, die in Syrien bestehen - denn Syrien ist eine Gesellschaft von Minderheiten -, gut einzubinden und Misstrauen zu zerstreuen? Und: Wie wird der Westen mit HTS umgehen? Wir haben ja nicht so viel Auswahl in der Region. Der Erfolg ihrer Machtübernahme, wie schon erwähnt, war die Einbindung der unterschiedlichen Gruppen. Der Pragmatismus. Sie haben sich auch von Beginn an international ausgerichtet. Al-Dschulani hat sich mehrfach an internationale Medien gewandt. Auch das ist, denke ich, das Erfolgsgeheimnis von HTS gewesen. Daran wird man auch ihre Regierungsfähigkeit ablesen. Es gibt den Vorschlag, den Bischof von Aleppo als Gouverneur einzusetzen. Das ist aus meiner Sicht ein ganz starkes Zeichen.
Sehen Sie die Chance, dass syrische Flüchtlinge auch aus Deutschland in ihre Heimat zurückkehren könnten?
Es werden jetzt Gebiete wieder zugänglich, die für Assad-Gegner vorher lebensgefährlich waren. Wären sie dort in die Fänge des Geheimdienstes geraten, hätten ihnen Folter und Haft gedroht. Das wird nicht mehr der Fall sein. Daher werden aus der Türkei, aber auch aus Deutschland und ganz Europa jetzt Syrer in ihr Zuhause zurückkehren können. Falls das Haus noch steht.
Mit Carsten Wieland sprach Frauke Niemeyer