Seit dem Anschlag von Solingen ist Migration das Wahlkampfthema Nummer eins - so scheint es zumindest. Bei der Spitzenrunde von ntv stellt sich jedoch heraus: In Thüringen brennt dem Publikum ein anderes Thema viel mehr unter den Nägeln.
Seit dem Terroranschlag von Solingen wird im ganzen Land (wieder einmal) heftig über Themen wie Migration, Gewaltkriminalität und Abschiebungen gestritten. Auch in Sachsen und Thüringen, wo an diesem Sonntag ein neuer Landtag gewählt wird, scheint die bundesweit geführte Debatte alle anderen Anliegen zu überschatten. Dabei haben Bürgerinnen und Bürger durchaus auch noch andere Sorgen.
Das zeigte sich auch in der Wahlkampfrunde der thüringischen Spitzenkandidatinnen und -kandidaten bei ntv in Zusammenarbeit mit Antenne Thüringen (Link zur Sendung in voller Länge). Vor allem das Thema Bildung wurde von zahlreichen Hörerinnen und Hörern mit Nachdruck aufs Tablett gebracht. Mehr als ein Viertel aller Publikumsfragen bezogen sich nach Angaben des Radiosenders auf Probleme in Kita, Schule oder Ausbildung. Kein anderes Wahlkampfthema hat mehr Wählerinnen und Wähler dazu bewegt, sich bei Antenne Thüringen öffentlich zu Wort zu melden und die Kandidatinnen und Kandidaten mit ihren Fragen zu konfrontieren.
Englischunterricht nur alle zwei Wochen
"Unser Sohn hat nur 20 Wochenstunden in der Schule, regulärer Stundenplan. Englisch nur alle zwei Wochen, zwei Stunden. Für die 6. Klasse ist das sehr wenig und echt lachhaft", berichtet eine Mutter. "Wie soll ein Kind in der 9. Klasse mit durchschnittlich vier Unterrichtsstunden am Tag eine Prüfung schaffen?", fragt eine andere.
Auch im Bildungssystem Beschäftigte melden sich zu Wort: Lehrkräfte und Erzieherinnen berichten von Überlastung und von Schwierigkeiten bei der Nachbesetzung von Stellen. Unternehmen klagen über fehlende Nachwuchskräfte. Aus fast allen Wortmeldungen lässt sich heraushören: Diese Menschen machen sich große Sorgen, dass ihre Region durch wachsende Bildungsdefizite den Anschluss verliert und sie wollen wissen: Wie will die zukünftige Landesregierung die Probleme in den Griff bekommen?
Tatsächlich hat Thüringen ein wachsendes Problem mit Unterrichtsausfällen an Schulen, wie ein Blick in die landesweite Schulstatistik zeigt. Seit 2008 steigt der Anteil der gestrichenen Einheiten am Stundensoll nahezu kontinuierlich an. Zuletzt lag der Anteil im Frühjahr 2024 an allgemeinbildenden Schulen bei 9,6 Prozent, an berufsbildenden Schulen bei 9,7 Prozent.
Und noch eine Zahl lässt aufhorchen: Als im Frühjahr in Thüringen die Halbjahreszeugnisse verteilt wurden, fehlten darin mehr als 50.000 Schulnoten in Fächern, die so selten unterrichtet werden konnten, dass auch auf eine Leistungsbewertung verzichtet werden musste.
Landesregierung räumt Versäumnisse ein
Nach Darstellung des Linken-geführten Bildungsministeriums sind die Probleme historisch bedingt. Nach der Wiedervereinigung sei die Zahl der Schülerinnen und Schüler eingebrochen, dadurch habe es bis etwa 2008 einen Überhang an Lehrkräften gegeben. Jahrelang galt deshalb ein Einstellungsstopp. Das rächt sich nun: Denn inzwischen scheiden mehr Lehrerinnen und Lehrer aus dem Beruf aus, als neu ausgebildet und eingestellt werden können. Es sei nicht gelungen, die politische Kehrtwende "rechtzeitig" einzuleiten, räumt das Landesministerium ein. Hinzu kommen zunehmend langfristige Ausfälle durch schwere Erkrankungen oder Schwangerschaften.
Mit diesen Problemen steht Thüringen allerdings nicht allein da. Schließlich haben auch andere Bundesländer mit einem akuten Lehrermangel zu kämpfen und versuchen mit ähnlichen Rezepten dagegen vorzugehen - etwa, indem sie Anreize für den Lehrerberuf erhöhen und Einstiegshürden abbauen. Laut erst kürzlich vorgestellten Zahlen des Statistischen Bundesamts für das Schuljahr 2022/2023 konnte bereits fast jede zehnte Lehrkraft durch einen Quereinstieg an einer allgemeinbildenden Schule anheuern. An Berufsschulen ist der Anteil sogar mehr als doppelt so hoch.
Auch die thüringische Landesregierung setzt verstärkt auf Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger, um dem akuten Personalmangel an Schulen zu begegnen. Aktuell sind nach Angaben von Bildungsminister Helmut Holter von den Linken knapp 1000 Stellen unbesetzt. Der Lehrerverband schätzt den tatsächlichen Lehrermangel eher auf 2000.
Ob Thüringen in Sachen Unterrichtsausfall wesentlich schlechter dasteht als andere Bundesländer, lässt sich schwer sagen. Denn wenn es um Schulstatistiken geht, kocht jedes Land sein eigenes Süppchen und erschwert damit einen direkten Vergleich erheblich. Gerade zum Lehrkräftemangel kursieren sehr unterschiedliche Zahlen aus den einzelnen Bundesländern - wobei die offiziellen Angaben der Landesregierungen meist deutlich unter der Schätzung von Experten und Verbänden liegen.
Schulpolitik - ein unterschätztes Wahlkampfthema?
Immerhin führt Thüringen als eines von wenigen Bundesländern schon seit Jahren flächendeckende Stichprobenerhebungen zu Unterrichtsausfällen durch. Dazu werden die Schulen jeweils zu Schuljahresbeginn sowie im 1. und 2. Schulhalbjahr nach der Zahl der ausgefallenen Unterrichtseinheiten in einer bestimmten Woche gefragt. Bei dieser Methode können - je nach Befragungszeitraum - natürlich saisonale Krankheitswellen mehr oder weniger stark ins Gewicht fallen. Außerdem merkt das Bildungsministerium an, dass seit 2018/2019 auch das betreute Lernen in Stillarbeit als Unterrichtsausfall gewertet wird. Diese Einheiten machen aber in der Regel nur einen geringen Teil der entfallenen Stunden aus, die meisten werden tatsächlich ersatzlos gestrichen.
Das Problem liegt nun schon lange auf der Hand. Doch nachhaltige Lösungen lassen auf sich warten. Das liegt zum einen in der Natur der Sache: Gute Lehrkräfte wachsen nun mal nicht auf Bäumen. Sie auszubilden braucht Zeit. Klar ist aber auch: Gegensteuern kann nur die Landesregierung - Bildung ist schließlich Ländersache. Der Bund hat hier nicht mitzureden. Verantwortungen abschieben: geht nicht.
Bildung ist ein Politikfeld, bei der die neue Regierung in Erfurt tatsächlich etwas reißen könnte - und ein Thema, mit dem sich die Parteien im Wahlkampf profilieren könnten. Die zahlreichen Anrufe der Wählerinnen und Wähler bei Antenne Thüringen machen deutlich: Hier geht es um die Bildungschancen von Millionen Menschen. Gerade im Landtagswahlkampf hätte so eine Diskussion noch deutlich mehr Raum verdient.