Die ukrainische Offensive in der russischen Region Kursk läuft seit mehr als einer Woche. Warum war die russische Armee von dem Vorstoß überrascht, obwohl sie offenbar von den Angriffsplänen wusste? Wie gehen die Ukrainer mit Gefangenen und Zivilisten in eroberten Ortschaften um? Diese Fragen beantwortet ein Belarusse, der auf der ukrainischen Seite in der Region Kursk kämpft, im Interview mit dem unabhängigen exil-belarussischen Nachrichtenportal Zerkalo.io. Der Mann, der anonym bleiben will, erklärt auch, weshalb es unter den russischen Soldaten viele Opfer gibt und warum er Mitleid mit ihnen hat. Die gekürzte Form des Interviews erscheint mit freundlicher Genehmigung der Zerkalo-Redaktion.
Wie haben Soldaten in Ihrer Brigade reagiert, als sie erfuhren, dass sie an der Kursk-Offensive teilnehmen werden?
Mit großer Freude! Wir haben Jungs, die sich weigern, zu rotieren. Sie wollen vorwärtsgehen.
Können Sie sagen, wie weit Sie von der Grenze entfernt sind?
Weit. Aber nicht so weit, wie wir sein wollen.
Wie intensiv ist Ihre Arbeit momentan?
Es gab einen Moment, da habe ich mehr als zwei Tage lang nicht geschlafen. Aber nach Awdijiwka und Tschassiw Jar fühlt es sich hier wie im Urlaub an. Wir sind wie ein heißes Messer durch Butter durchgekommen. Und wir gehen weiter, solange es keinen Widerstand gibt. Wir können nicht anhalten: Während wir vorrücken, geben wir dem Feind keine Chance, aufzuwachen und eine Verteidigung aufzubauen. Genau das ist unser Ziel - den Russen keine Gelegenheit geben, sich zu festigen.
Sie haben verschiedene Ortschaften passiert. Gibt es dort noch Zivilisten?
Ehrlich gesagt, in all den Orten, die wir durchquert haben, habe ich kaum Einheimische gesehen. Vielleicht sind sie irgendwo, aber wir bewegen uns sehr schnell vorwärts, wir gehen nicht von Tür zur Tür.
Aber haben Sie jemanden aus der lokalen Bevölkerung getroffen? Wie reagieren sie auf all das?
Wir waren im Vorfeld sehr besorgt, unser Ziel war es, zivile Opfer und Konflikte zu vermeiden. Aber es hat sich herausgestellt, dass alles sehr gut verläuft. Konflikte mit den Einheimischen gab es so gut wie keine, zumindest in unserer Einheit nicht.
Welche Anweisungen wurden Ihnen für den Umgang mit Zivilisten vor der Offensive gegeben?
Uns wurde strikt verboten, Plünderungen zu begehen — darauf stehen sehr harte Strafen. Es darf auch keine anderen Verbrechen geben, weder militärische noch zivile. Wir wurden instruiert, wie wir uns gegenüber den Einheimischen verhalten sollen: Nicht ohne Erlaubnis in Häuser eindringen, die Durchsuchungen vorsichtig und ohne Beschädigung des Eigentums durchführen und dabei den Frieden der Zivilbevölkerung so wenig wie möglich stören.
Sie wurden gerade von einer fliegenden Rakete abgelenkt. Ist das die russische Armee, die ukrainische Streitkräfte aus der Region Kursk vertreiben will?
Die Rakete flog in Richtung Ukraine, ich befinde mich gerade in einem Schutzraum. Sie versuchen, uns zu vertreiben, aber es gelingt ihnen nicht gut. Auf uns fliegen gelenkte Bomben, Mörsergranaten, Artilleriegeschosse, und gestern haben sie uns mit einem Mehrfachraketenwerfer angegriffen.
Das sind Waffen, die auf großen Flächen erheblichen Schaden anrichten können.
Ja, und die Russen schießen auf ihre eigenen Städte und Dörfer. Wir halten uns nicht in russischen Dörfern auf – das macht keinen Sinn, man wird zur offenen Zielscheibe. Deshalb haben wir die Anweisung, uns nicht in Häusern auf feindlichem Gebiet einzuquartieren.
Einige Bewohner der Region Kursk behaupteten, dass die ukrainischen Streitkräfte die Straßen beschießen, auf denen sich auch Zivilisten versuchen in Sicherheit zu bringen.
Ich habe nicht gesehen, dass jemand auf Zivilisten oder diese Straßen schießt. Dass die ukrainische Armee absichtlich auf Zivilisten schießt, halte ich für unmöglich.
Und aus Versehen?
Unabsichtlich kann vieles passieren. Zum Beispiel könnten wir eine Ansammlung von Mobilfunksignalen orten und daraus schließen, dass sich dort russische Soldaten im Wald verstecken, und einen Schlag ausführen – aber es könnte auch ein Pilzsammler getroffen werden. Das ist Krieg, so etwas passiert.
Wie hoch sind die Verluste der ukrainischen Armee?
Unsere Verluste sind sehr niedrig. Es gibt Verletzte und auch Tote, aber im großen Maßstab betrachtet liegen die Verluste fast bei null. Auf dem Schlachtfeld haben wir keinen einzigen Gefallenen oder Verletzten zurückgelassen.
Wer sind die russischen Soldaten, mit denen Sie kämpfen mussten?
Das sind Grenzsoldaten, Wehrpflichtige im Alter von 18 bis 22 Jahren. Zu Beginn war das quasi die einzige Verteidigung Russlands. Es gab sehr, sehr viele tote Wehrpflichtige. Sie taten mir sogar leid. Sie waren schlecht vorbereitet, nicht ausgebildet – es waren im Grunde Kinder. Einfach Kinder, die eigentlich gar nicht kämpfen sollten. Warum ihr Kommando sie im Stich gelassen hat, ist unklar.
Hatte Russland nicht damit gerechnet, dass es einen Vorstoß aus der Region Sumy geben wird?
Von Gefangenen erfuhren wir, dass man sie zwei Tage vor Beginn des Angriffs gewarnt hatte und ihnen gesagt wurde, dass die Ukraine angreifen würde. Man sagte ihnen, dass wir schwach seien und bei den ersten Schüssen weglaufen würden. Doch als die Offensive begann, hat ihr Kommando sie einfach im Stich gelassen und ist geflohen. Sie ließen strategische Dokumente zurück, darunter Karten, auf denen ihre Artilleriestellungen, Feldlager und Munitionsdepots verzeichnet waren. Dank dieser Dokumente konnten wir schon am ersten Tag die gesamte Artillerie entlang unserer Angriffsroute ausfindig machen und zerstören.
Wie werden die Kriegsgefangenen behandelt?
Sie sind wirklich bedauernswert. Leider wird diesen jungen Männern durch Propaganda eingeredet, dass wir grausam sind und alle töten und foltern werden, was absolut nicht der Fall ist. Wir leisten ihnen medizinische Hilfe, geben ihnen zu essen und übergeben sie an Orte, wo sie später in Austauschlisten aufgenommen werden können. Ich denke, meinen ukrainischen Kameraden geht es wie mir – auch sie haben Mitleid mit diesen jungen Leuten. Warum gibt es so viele Gefangene? Weil viele von ihnen sich gar nicht gewehrt haben – sie kamen mit erhobenen Händen, ohne Waffen, ohne Schutzwesten und Helme heraus. Und es sind wirklich sehr viele. Natürlich gibt es welche, die Widerstand leisten. Und wenn so ein junger Mann dir mit einem Maschinengewehr gegenübersteht, hast du keine andere Wahl …
Wie sieht es mit Befestigungsanlagen auf russischer Seite aus?
Es gibt sie, und zwar sind es sehr ernsthafte Verteidigungsanlagen. Man muss zugeben, dass ihre ingenieurtechnische Vorbereitung auf einem hohen Niveau ist. Natürlich gab es auch Minenfelder, aber die Russen haben einen Fehler gemacht, über den ich nicht sprechen werde.
Merkt man bereits, dass die Russen erfahrenere Soldaten in die Region Kursk verlegen, um die Offensive aufzuhalten?
Ich bin nicht an der vordersten Front, daher kann ich das schwer beurteilen. Was ich aber sagen kann - da sie an der Grenze nur Feldtelefone verwenden, ist ihre Kommunikation zwar zuverlässig und gegen elektronische Kriegsführung geschützt, aber sobald eine Leitung unterbrochen wird, bricht die Verbindung ab. Dadurch erhalten sie keine Informationen und machen viele Fehler. Zum Beispiel gehen sie davon aus, dass ein Punkt noch unter ihrer Kontrolle ist, schicken Verstärkung dorthin, und diese kommt in dem Glauben, dass alles in Ordnung ist. Wir lassen sie näher kommen und erledigen sie.
Außerdem beschießen sie ihre eigenen Sendemasten, um uns die Kommunikation abzuschneiden, aber dadurch verlieren auch sie ihre Verbindung. Dabei haben wir "Starlink", Funkgeräte und alles ist gut organisiert. Sie aber haben definitiv Probleme.
Dürfen Sie sagen, ob die ukrainischen Streitkräfte planen, in der Region Kursk zu bleiben?
Nun, mein Plan ist es, bis nach Moskau zu gehen. Der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte wird das aber wohl nicht gutheißen.
Glauben Sie, dass die Russen sich in der Nähe Ihrer jetzigen Positionen befestigen und erfahrenere Einheiten zusammenziehen werden, um den Vormarsch zu stoppen?
Ja, und sie werden sich aus den besetzten Gebieten der Ukraine zurückziehen, ihre Truppen dort schwächen, und unsere werden vorankommen. Wir werden den Krieg auf russisches Territorium verlagern, und das wird ein Sieg sein. Wir werden unser Ziel erreichen: Die ukrainischen Gebiete werden befreit.