Seit Wochen kursieren Gerüchte zum "Siegesplan", den der ukrainische Präsident Selenskyj seinen westlichen Partnern präsentiert hat. Bei der Vorstellung im Parlament erfahren die Ukrainer endlich Details. Der Plan mag kein großer Wurf sein, adressiert aber dafür Wünsche des wichtigsten Unterstützerlandes - den USA.
Allein die Kulisse zeigte bereits, wie groß die Bedeutung des heutigen Auftritts für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj war. Nicht nur wurde für die lange erwartete Vorstellung des sogenannten "Siegesplans" eine außerplanmäßige Sitzung des Parlaments einberufen, von der die Abgeordneten erst am Vortag erfahren hatten. Darüber hinaus war im Saal der Werchowna Rada so gut wie die gesamte militärisch-politische Führung des Landes vertreten: von Ministerpräsident Schmyhal und Verteidigungsminister Umerow über Armeechef Syrskyj bis hin zu den Chefs der drei ukrainischen Geheimdienste. Was sonst trotz der zeitversetzten Ausstrahlung der Selenskyj-Rede wohl als zu hohes Sicherheitsrisiko gegolten hätte, war an diesem Mittwochmorgen egal.
34 Minuten lang dauerte die energische Rede des ukrainischen Präsidenten, der erst vor Kurzem von seiner diplomatischen Europa-Tournee zurückkehrte und schon morgen wieder auf Reisen sein dürfte, um den "Siegesplan" beim Gipfeltreffen des Europäischen Rates vorzustellen. Zwei weitere Stunden brauchte Selenskyj dann noch, um sich unter Geheimhaltung mit den Abgeordneten zu unterhalten und zu beraten. In der Regel nimmt sich der ukrainische Präsident nicht so viel Zeit für das Parlament, in dem seine politische Bewegung ohnehin die absolute Mehrheit besitzt.
Laut dem Parlamentsvorsitzenden Ruslan Stefantschuk wurde der Plan einstimmig von der Werchowna Rada unterstützt. Dawid Arachamija, Selenskyjs Fraktionschef, sprach von einem "sehr detaillierten Dokument", das er hoch einschätze. Die Resonanz in der Opposition fiel hingegen gemischt aus.
Überhöhte Erwartungen eingepreist
Der Präsidentenkanzlei nahestehende Experten hatten von Beginn an leichte Skepsis über den Begriff "Siegesplan" geäußert. Der Ursprung der Idee ist eindeutig: Das im April vom US-Kongress verabschiedete Gesetz zu weiteren Ukraine-Hilfen beinhaltete die Forderung an das Weiße Haus, eine Strategie des ukrainischen Sieges vorzustellen. Dem kam Selenskyj nun nach. Dennoch spielte die Befürchtung mit, dass allein der Begriff inmitten dieser besonders schwierigen Kriegsphase in der Ukraine überhöhte Erwartungen weckt.
Zum einen geht es den ukrainischen Streitkräften derzeit vorwiegend darum, den seit Oktober 2023 andauernden Vormarsch der russischen Truppen in der Region Donezk zu stoppen. Zum anderen wurde früh deutlich, dass der Plan nicht etwa eine vollkommen neue militärische Strategie beschreibt. Es handelt sich eher um eine Art Wunschzettel an den Westen. Das Motto: Mit diesen Mitteln kann die Ukraine gegen Russland bestehen.
Schon die Erfüllung der ersten vier Punkte auf Selenskyjs Wunschzettel, die sich den fortschreitenden Kampfhandlungen widmen, gestaltet sich aus westlicher Sicht schwierig. Diese will Selenskyj aber nach Informationen der Nachrichtenagentur Reuters binnen drei Monaten umgesetzt wissen. Darunter ist die Einladung zum NATO-Beitritt. Dass etwa Ungarn und die Slowakei einem Beitritt der Ukraine zustimmen, ist derzeit unwahrscheinlich - auch nach einem Ende des Krieges. Allerdings berichtet die gut informierte ukrainische Journalistin Julija Sabelyna vom führenden Medium "NV", dass es bei der NATO-Frage tatsächlich einen Fortschritt gebe. "Es werden Bedingungen erarbeitet, unter denen diese Einladung an die Ukraine ausgesprochen werden könnte. Dies wird auch in den europäischen Hauptstädten besprochen. Unter anderem in Berlin."
Auch Selenskyjs Forderung, russisches Territorium mit weitreichenden westlichen Waffen angreifen zu dürfen, reibt sich mit der US-Präsidentschaftswahl am 5. November. Zu groß ist die Angst der Regierung Joe Bidens, damit Donald Trump in die Karten zu spielen. Bessere Aussichten haben der vorgelegte Waffenkatalog und die geforderten Investitionen in die ukrainische Waffenproduktion. Dies sind die Punkte zwei ("Verteidigung") und drei ("Abschreckung") im "Siegesplan". Gut möglich, dass dazu in diesen Tagen in den USA vertraulich beraten wird. Der ukrainische Generalstabsleiter Anatolij Barhylewytsch, die rechte Hand des Befehlshabers Oleksandr Syrskyj, befindet sich gerade in den USA.
Manche Vorschläge geheim
Punkt vier ("Wirtschaft") dreht sich um die Frage, wie der Westen den Sanktionsdruck auf Russland und seine Partner erhöhen und zugleich die Zusammenarbeit mit Kiew stärken kann. Das umfasst auch die Perspektive, nach dem Krieg die Bodenschätze der Ukraine gemeinsam mit dem Westen zu bewirtschaften. Die konkreten Vorschläge hierzu hat Kiew als geheim eingestuft.
Was aber bekannt ist: Die Ukraine bietet im letzten Punkt an, in Europa stationierte US-Militäreinheiten nach dem Krieg durch kriegserfahrene ukrainische Truppen zu ersetzen. Das Angebot zielt auch auf Trump und seine Republikaner, die des kostenintensiven militärischen Schutzschirms für Europa überdrüssig sind. Auch für Europa ist das interessant: Keine andere westliche Armee hat so viel Erfahrung in einem konventionellen Krieg solchen Ausmaßes wie die ukrainischen Streitkräfte.
"Ich halte die Punkte im Allgemeinen für realistisch, wenn wir von den von Selenskyj angesprochenen Zeiträumen mal abgesehen", schreibt der prominente Militärjournalist Bohdan Myroschnykow. Der ukrainische Präsident sprach davon, mit Hilfe des "Siegesplans" den Krieg hoffentlich bis Ende 2025 zu beenden. "Nur ein solcher Maßnahmenkomplex kann uns tatsächlich beim Sieg helfen. Wie viel Zeit es auch immer brauchen wird, müssen wir auf den Sieg hinarbeiten. Wenn wir schon jetzt die Partner davon überzeugen können, ihre Position von 'Wir helfen euch so lange wie nötig' auf 'Wir helfen euch, damit ihr siegt' zu verändern, haben wir Chancen. Die Position der Verbündeten ändert sich aber nicht von selbst", schreibt Myroschnykow. Dafür müsse viel gearbeitet werden.
Offene Fragen in Washington
Aus der Opposition war dagegen zu hören, dass der "Siegesplan" hauptsächlich aus Bitten an die Unterstützerstaaten bestehe, aber wenige Vorschläge beinhalte, was die Ukraine selbst umsetzen kann. "Ein Plan muss realistisch und keine bloße Rahmenauflistung sein", sagte Iryna Heraschtschenko, bekannte Abgeordnete aus der Partei des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko - Selenskyjs politischer Erzrivale. "Es fielen viele richtige Worte über die Einheit, das Fehlen von Alternativen zur Demokratie, die Stärkung des Verteidigungsbereiches und die europäische Integration. Es ist wichtig und wir sind dafür", so Heraschtschenko. Doch es sei auch wichtig, einen Plan für eigene Hausaufgaben zu haben: "Schritt für Schritt: Was sollten wir als Staat, als Institutionen in diese Richtungen tun?"
Der "Siegesplan" mag wenig revolutionär sein. Dennoch besteht in der Ukraine weitgehender Konsens darüber, dass die von Selenskyj angesprochenen Themen notwendig sind, damit Russland eines Tages seinen Angriffskrieg einstellt. "In den USA wurde der Plan von beiden politischen Lagern kritisch, aber nicht negativ wahrgenommen", betont die Journalistin Julija Sabelina. So seien auf US-amerikanischer Seite noch Fragen offen zum Ziel weitreichender Angriffe tief hinein in die Russische Föderation. Die US-Politiker hätten zudem Fragen zu den Problemen der Ukraine bei der Mobilisierung weiterer Soldaten, zur Motivation der kämpfenden Streitkräfte und dem Kriegseinsatz von Rekruten. Zu all diesen Punkten erwarte Washington Lösungsvorschläge von Selenskyj. Vielleicht kann dazu Generalstabsleiter Barhylewytsch gerade Aufklärung liefern.