In Kürze wählen die Menschen in drei ostdeutschen Bundesländern neue Landtage. Wie ist die Lage vor Ort? Besuch bei einem Bürgermeister im sächsischen Vogtland.
Wenn Nachrichten aus Sachsen herausdringen, sind sie oft wenig schmeichelhaft. Übergriffe auf Asylbewerberheime, Wutbürger von Pegida, Proteste gegen einen Christopher-Street-Day so wie gerade erst in Bautzen. Erfolgsgeschichten wie die VW- und BMW-Standorte, die Halbleiterindustrie oder auch einfach nur die touristische Attraktivität der Landschaft und der Städte stehen im Schatten.
Auch vor der Landtagswahl am 1. September ist das so. Aber wie ist die Lage vor Ort? Abseits der großen Zentren wie Dresden, Leipzig oder auch Chemnitz? Wie sieht es in den kleineren Städten aus? Auerbach im Vogtland ist so eine kleine Stadt. 18.000 Einwohner, auf den ersten Blick sieht sie aus wie andere Städte auch, nicht nur in Sachsen. Drei Türme, von zwei Kirchen und einem Schloss prägen die Stadt-Silhouette. Fährt man über die Obere Bahnhofstraße hinein, fallen große Villen aus der Gründerzeit auf. Damals, Ende des 19. Jahrhunderts, lebten rund 40.000 Menschen in Auerbach. Tausende arbeiteten in der Textilindustrie.
Das ist lange her. Zu DDR-Zeiten lebten noch gut halb so viele Menschen dort, produzierten Plauener Spitze, Nachtwäsche und Gardinen, auch für Versandhäuser im Westen. Nach Mauerfall und Wiedervereinigung machten die meisten Betriebe dicht. Da in D-Mark gezahlt werden musste, lohnte sich das Geschäft für Quelle, Neckermann oder Otto nicht mehr. Doch die Stadt hat sich berappelt, einigermaßen zumindest.
Bei der Stadtratswahl Anfang Juni kam die AfD auf 28,1 Prozent, ein Plus von 9 Prozentpunkten. Stärkste Kraft ist die CDU mit 30 Prozent. Aber es dreht sich nicht alles um Politik in diesem Sommer: Gerade feierten die Auerbacher ihr Stadtfest, zu Gast waren Stefanie Hertl samt Dirndl-Rockband und Coverbands von Depeche Mode und Rod Stewart. In einem Freibad wurde gerade die deutsche Meisterschaft im Wasserrutschen ausgetragen.
Oberbürgermeister Jens Scharff nimmt sich viel Zeit für ein Gespräch in seinem Rathausbüro. Auch sein Sprecher Hagen Hartwig äußert sich, was hier auch so wiedergegeben werden soll. Gerade erst hatten sie gute Nachrichten zu verkünden.
ntv.de: Herr Scharff, wie geht es Ihrer Stadt?
Oberbürgermeister Jens Scharff wurde 2022 als Parteiloser in sein Amt gewählt. Zur Kandidatur entschied er sich, als er feststellte, dass es keinen anderen Kandidaten geben würde, den er gewählt hätte. Scharff wollte eigentlich Lehrer werden. Weil es keine Stellen gab, fing er bei einer großen Bank an. Zwei Jahre lebte er in Budapest, dann zwölf Jahre in München. Aus Bayern pendelte er jedes Wochenende nach Hause, seine Familie blieb daheim. Seinen Wohnsitz habe er nie aus Auerbach wegverlegt, sagt Scharff. Der 56-Jährige hat drei Kinder und zwei Enkelkinder.
Jens Scharff: Uns geht es noch gut. Unser Problem ist aber, dass wir schrumpfen. Zur Wendezeit hatten wir etwa 25.000 Einwohner. Aktuell sind wir noch knapp 18.000. Nachdem damals die Textilindustrie weggebrochen ist, sind ganz viele Frauen weggezogen, die typischerweise als Näherinnen gearbeitet haben. Diese haben hier auch keine Kinder mehr zur Welt gebracht. Die Tendenz für die nächsten 10 bis 15 Jahre geht gegen 15.000. Auf dem Niveau wird es sich hoffentlich stabilisieren.
Wie kommt man da wieder heraus?
Die Bundes- und zum Teil auch die Landespolitik haben die letzten Jahrzehnte nur Leuchtturmpolitik betrieben. Nach dem Motto: alles in die Zentren! Die saugen immer mehr Menschen auf. Die platzen aus allen Nähten. Mein Ansatz wäre ein anderer.
Und der wäre?
Wir haben den Breitbandausbau abgeschlossen. Wenn wir jetzt zum Beispiel einen besseren Bahnanschluss hätten, damit die Menschen auch mal schnell nach Dresden oder Leipzig kommen könnten, wären die Anreize ganz anders, sich hier niederzulassen. IT-Unternehmen könnten ihren Menschen hier einen hervorragenden Lebensraum bieten, zu attraktiven Kosten und allen wäre geholfen. Man muss nicht in Berlin, Hamburg und München immer noch mehr Wohnungen bauen. Das habe ich auch mal der Bundesbauministerin Geywitz geschrieben - aber leider eine ausweichende Antwort erhalten.
Was müsste Ministerpräsident Kretschmer tun, damit Ihr Leben hier einfacher wird?
Ich treffe ihn ja häufiger und er hört uns auch zu. Aber auch seine Kassen sind nicht übermäßig gefüllt. Uns wird perspektivisch das Geld fehlen. Wir werden immer weniger Einwohner und bekommen deswegen immer weniger Schlüsselzuweisungen vom Land. Wir haben aber eine wahnsinnig große Infrastruktur. Das Geld wird nicht mehr da sein, um alles zu erhalten, wie wir es jetzt haben. Das schafft Unzufriedenheit bei den Bürgern.
Muss man sich Ihre Arbeit als Mangelverwaltung vorstellen?
Noch nicht, aber es droht, dahin zu kommen. Der Landkreis hat vor drei Monaten eine Haushaltssperre verhängt, weil die Sozialausgaben sehr stark gestiegen sind. Der letzte Tarifabschluss im öffentlichen Dienst kostet die Stadt 800.000 Euro pro Jahr. Bei einem Gesamtetat von 33 Millionen. Das sind alles Themen, die mir ein paar Sorgenfalten auf die Stirn bringen.
Aber es gibt auch einen Lichtblick.
Heut früh hatten wir die Pressekonferenz dazu. Der Automobilzulieferer EAO aus der Schweiz, der bereits seit 1991 in Auerbach vertreten ist, will seinen Standort stark erweitern. Bislang beschäftigen sie 105 Mitarbeiter, jetzt wollen sie 150 neue Arbeitsplätze schaffen. EAO wird dann der größte Arbeitgeber in der Produktion sein. Was mich besonders freut, ist, dass sie auch die Ingenieure hier ansiedeln. Um Knowhow und Produkte zu entwickeln. Wir sind nicht die verlängerte Werkbank, wie das nach der Wende mal war. Hier entsteht wirklich etwas Großes, das eine Strahlkraft in ganz Europa hat.
Haben Sie genug Fachkräfte in der Region dafür?
Das ist tatsächlich ein großes Thema. Wir punkten aber damit, dass die Lebenshaltungskosten im Vergleich zu anderen Regionen noch günstig sind. Das bewegt doch den ein oder anderen, herzukommen. Man kann sich hier viel für sein Gehalt leisten.
Wenn Sie auf den Zuzug von Fachkräften hoffen, sind da die Wahlerfolge der AfD, auch hier in Auerbach, abschreckend?
In Auerbach war das bisher kein Thema. Wir haben hier kein Problem mit Menschen, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft haben. In Auerbach leben 850 Menschen ohne deutschen Ausweis. Das sind aber auch Ungarn, Tschechen, Österreicher, Franzosen. Auch aus Venezuela haben wir Bürger.
Wie sieht es mit Flüchtlingen aus?
Von den 850 kommt ungefähr ein Viertel aus der Ukraine. Die nächststärkeren Volksgruppen sind aus der EU. Aus Syrien haben wir vielleicht 50. Wir haben ein paar unbegleitete Minderjährige. Wir haben bisher das große Glück, dass vor allem Familien zu uns kommen. Die haben wir dezentral untergebracht und damit sind sie auch integriert. Wir haben nicht so eine große Flüchtlingsunterkunft, in der es dann Reibereien gibt. Wohnungen haben wir ja genug. 2015 kam eine Welle, das waren so 150 bis 180 Flüchtlinge, da hatten wir einige Wochen eine Notunterkunft. Da ging aber eine Welle der Hilfsbereitschaft durch die Stadtgesellschaft.
Und die Ukrainer? Wie ist die Stimmung?
Das kommt drauf an, wie sie auftreten. Wenn Sie im Pelzmantel im SUV vorfahren, ist die Stimmung nicht so gut. Das ist tatsächlich vorgekommen. Aber die sind auch schon wieder weg, weil denen Auerbach einfach zu klein ist. Die, die noch da sind, sind entweder Mütter oder Väter mit ihren Kindern. Die nehmen jetzt Deutschunterricht und gehen dann einer Arbeit nach.
War es richtig, den Ukrainern gleich Bürgergeld zu zahlen?
Das wird auch diskutiert. Vor allem dann, wenn die Menschen nicht arbeiten gehen. Mir fehlen da die Zahlen dazu. Aber einige gehen nicht arbeiten.
Aber die Größenordnung scheint für Auerbach gut verkraftbar zu sein.
Sprecher Hagen Hartwig: Wir müssen nur nach Plauen gucken. Die haben ganz andere Probleme. Da gehen viele, viele nicht mehr am Abend in die Innenstadt rein, weil die dort die ausländische Kriminalität nicht in den Griff bekommen.
Ist das wirklich so oder nur gefühlt?
Scharff: Das Gefühl ist viel schlimmer als die eigentlichen Tatsachen. Wenn man unsere Kriminalstatistik auch speziell in Auerbach hernimmt, zeigt sich: Die Fälle sind seit Jahren rückläufig. Das haben wir auch mal in einer Stadtratssitzung vorgestellt, um den Menschen zu zeigen: Wir haben dieses Problem nicht. Es ist gefühlt da, aber es lässt sich empirisch nicht belegen.
Hartwig: Es ist auch die Frage, wie es beherrscht wird. Wir haben gleich hier oben ein Heim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Das wird von der Diakonie bewirtschaftet. Anfangs habe ich mir einen anderen Stellplatz organisiert, weil ich nicht wollte, dass mein Auto direkt neben dem Heim steht. Das hätte ich gar nicht machen brauchen. Die Diakonie hat das durch ihre fachmännische Arbeit so gut im Griff.
Ich selbst habe 2015 mit meiner Frau zwei syrische Flüchtlinge behütet, auch zu Hause. Ich wurde damals demütiger, mein Weltbild hat sich damals geändert. Der eine hat bei einem Raketenangriff in Aleppo seinen linken Arm verloren. Sein kleiner Bruder war sofort tot. So kam der hierher. Er hat eine Ausbildung gemacht und ist jetzt im betriebswirtschaftlichen Bereich, arbeitet in Plauen bei einem Automobil-Zulieferer am PC. Er spricht gut Deutsch, er ist seinen Weg gegangen.
Das ist interessant, dass Sie einerseits sagen: Ich wollte mir wegen des Heims einen anderen Parkplatz suchen und andererseits selbst Syrer bei sich aufgenommen haben.
Hartwig: Ja, das finde ich selbst auch ambivalent, was ich Ihnen erzähle. Einerseits schaffe ich mein Auto weg, weil ich Angst habe, die demolieren das. Andererseits habe ich zwei syrische Flüchtlinge bei mir auf dem Balkon sitzen. Da wurde ich oft gefragt: Warum machst du das? Da habe ich gesagt: Ich habe das Leid gesehen und ich habe gesehen, die brauchen Hilfe. Und ich möchte, dass aus den beiden Jungs etwas wird. Das hat auch funktioniert. Das haben viele Auerbacher auch so gesehen.
In ihrem neuen Stadtrat erreichte die AfD fünf Sitze. Von 18.
Scharff: Wobei die sich jetzt schon wieder zerfleischen. Jetzt haben sie nur noch vier Sitze, weil sie einen ausgeschlossen haben. Ich werde aus ihnen nicht so richtig schlau. Da ist ein Handwerker dabei, der sehr sozial eingestellt ist, der hat eine Weiterbildung im Hospizverein gemacht. Er lebt mit seinem Mann in einem Ortsteil bei uns. Er passt für mich überhaupt nicht dahin. Von einem anderen jungen Mann, auch sozial eingestellt, höre ich kein böses Wort über Ausländer.
Auerbach ist ein schönes Städtchen, gepflegt, sauber, adrett. Natürlich gibt es Probleme, aber man kommt hier nicht rein und denkt: 30 Prozent AfD.
Ich glaube, da wird ganz viel von der Bundespolitik der letzten 20 Jahre hier in die Ortschaft projiziert. Ein ganz großes Thema ist, dass man 2015 die Menschen hier unkontrolliert reingelassen hat und man nicht mehr wusste, wer wo war.
Wie stehen Sie dazu?
Wenn mir die Frage gestellt wird, sage ich immer: Ich wüsste nicht, wie ich damals entschieden hätte. Ich möchte in dieser Zeit nicht Angela Merkel gewesen sein. An den Grenzen standen Tausende Menschen. Was macht man mit denen? Auf sie schießen, das ging nicht. Ich bin Christ, das kam nicht infrage. Deswegen kann ich nachvollziehen, dass man die Menschen ins Land gelassen hat.
Was half der AfD noch?
Corona hat ganz viel kaputt gemacht. Das hat einen Keil in die Gesellschaft getrieben. Das hat sich aufgespalten in zwei Lager. Egal wer was gesagt oder geschrieben hat, es wurde einfach nicht mehr geglaubt.
Fänden Sie es richtig, das noch einmal politisch aufzuarbeiten?
Das weiß ich nicht. Ein Teil der Bürger traut niemandem mehr. Dieses Stadium haben wir mittlerweile erreicht. Wenn man das jetzt aufarbeitet, wird mit Sicherheit auch wieder gesagt: Alles geschönt.
Heizt die AfD diese Stimmung noch weiter an?
Ich nehme die AfD so wahr, dass sie sich der Methoden von Trump bedient. Sie tritt sehr populistisch auf und bedient Narrative, die die Menschen auf der Straße umtreiben. Wenn man nun ohnehin ein Misstrauen gegenüber den privaten und öffentlich-rechtlichen Sendern hat, dann heißt es: Wenn das alles falsch ist, muss alles stimmen, was die AfD sagt. So sehen die das. Diese Gemengelage ist nicht gut. Aber auch die Bundespolitik spielt eine Rolle.
Inwiefern?
Diese Regierung schafft es nicht, den Menschen zu erklären, wohin sie will. Man nimmt sie nur streitend wahr. Wenn dann Parolen herauskommen wie: Wir dürfen nichts mehr verbrennen und alle müssen sich eine Wärmepumpe einbauen, dann kommt das nicht gut an. Die Kommunikation ist einfach eine Katastrophe.
Sie sind parteiloser Bürgermeister, was in Ostdeutschland viel häufiger ist als im Westen. Warum haben Sie sich nicht einer Partei angeschlossen?
Es war ein Vorteil für mich, dass ich bei der Wahl parteilos angetreten bin und auch noch nie in einer Partei war. Auch den etablierten Parteien gegenüber gibt es einen Vertrauensverlust. Dann traut man eher jemanden zu, so ein Amt auszufüllen, der noch nie etwas mit einer Partei zu tun hatte. Es wird grundsätzlich unterstellt, dass Parteimitglieder bloß einer Parteiideologie hinterherrennen. Auch wenn es gar nicht so ist.
Rührt diese Skepsis auch aus den Erfahrungen der DDR-Zeit? Damals wurde man ja tatsächlich viel angelogen, von den Medien, von der Regierung.
Ich höre immer wieder mal diese Meinung: Es ist schlimmer als in der DDR. Es gibt keine Meinungsfreiheit mehr. Früher wussten wir wenigstens, dass wir verarscht werden.
Im Landkreis Mittelsachsen hat kürzlich der Landrat Dirk Neubauer sein Amt aufgegeben, weil er und seine Familie so stark angefeindet wurden.
Herr Neubauer polarisiert schon auch durch seine Art und zieht dadurch vielleicht die ein oder andere Anfeindung mehr auf sich. Ich habe in meiner Amtszeit erst einen Drohbrief bekommen.
Warum?
Ich hatte gesagt, dass man nicht jeden, der keinen deutschen Pass hat, verteufeln soll.
Das war schon zu provokant? Was stand da drin?
Eine Morddrohung war es nicht. Aber es stand drin: Wir wissen, wo du wohnst und wer deine Familie ist. Das weiß zwar ohnehin so ziemlich jeder in Auerbach. Aber wenn man so ein anonymes Schreiben im Briefkasten hat - das hat mich schon beschäftigt. Aber ich habe keine Angst.
Mit Jens Scharff sprach Volker Petersen