Russland macht in der Region Kursk inzwischen Boden gut. Die Offensive der Ukraine auf russischem Staatsgebiet ist trotzdem weiterhin die größte Hoffnung der Ukraine - gleichzeitig aber auch ein Dilemma.
Auch über zwei Monate nach dem Überraschungsangriff auf die Region Kursk hält die ukrainische Armee weiterhin die meisten ihrer Stellungen auf russischem Boden. Kremlchef Wladimir Putin hatte kurz nach der Offensive die baldige Vertreibung der ukrainischen Eindringlinge angekündigt, das Vorhaben gestaltet sich aber inzwischen deutlich langwieriger.
Anfang August hatten Kiews Truppen mit dem Vormarsch auf dem Boden des Gegners ihre Verbündeten und die Russen überrascht. Seitdem hält die Ukraine eine Fläche von 1000 bis 1300 Quadratkilometern, etwa halb so groß wie das Saarland. Den Kremltruppen ist es in den vergangenen Tagen gelungen, ein paar Dörfer zurückzuerobern. "In Kursk sehen wir, dass die Russen auch hier immer mehr Gelände gewinnen und die ukrainischen Soldaten gezwungen sind, zurückzuweichen. Die russische Absicht ist offensichtlich, in einer Art Zangenbewegung diesen Frontvorsprung der Ukraine einzudrücken", analysiert Oberst Markus Reisner im ntv-Interview.
Von einem entscheidenden Durchbruch der russischen Gegenangriffe ist aber noch keine Rede. Die USA erwarten, dass dies noch lange Zeit so bleiben wird. Hochrangige Beamte aus Washington gehen laut eines Bloomberg-Berichts davon aus, dass die Ukraine die eroberten Gebiete in der Region Kursk noch mehrere Monate, wenn nicht sogar länger, halten kann. Kiew habe in Kursk bislang keine nennenswerten Nachschubprobleme und die russischen Gegenangriffe seien nur begrenzt, heißt es.
Faustpfand für Verhandlungen?
Der Kursk-Vorstoß ist für die Ukraine wichtig, weil sie hofft, ein Faustpfand für mögliche Verhandlungen in der Zukunft zu liefern. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte im August gesagt, Kursk sei ein wichtiger Teil seines Siegesplans. Der ukrainische Staatschef will verhindern, dass der Krieg eines Tages zum Vorteil von Russland eingefroren wird, Moskau demnach eroberte Gebiete in der Ukraine behalten kann. Kursk soll das verhindern.
Die Besetzung des russischen Gebiets allein reicht dafür aber nicht aus, meint der Politikwissenschaftler Thomas Jäger. "Es ist aus ukrainischer Sicht eine Aktion gewesen, die den Unterstützern zeigen soll, dass Russland unter Druck zu setzen ist und man auf diese Art und Weise möglicherweise den Weg findet, dass Russland verhandlungsbereit wird", sagt Jäger im ntv-Interview. Er betont, dass kurz nach Beginn der Kursk-Offensive nicht damit zu rechnen war, dass die Ukraine sich derart lange auf russischem Boden aufhalten kann. Kursk allein genüge aber nicht, um das Blatt zugunsten Kiews zu drehen.
"Kein Vergleich zur totalen Verwüstung"
Die Ukraine war bei der Eroberung der Dörfer und Kleinstädte in der Region Kursk unterdessen weniger zerstörerisch als Russland. In Sudscha, einer Kleinstadt etwa zehn Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, sind nur wenige Wohnhäuser bei der ukrainischen Offensive beschädigt worden, berichtet das US-Magazin "Foreign Policy" in einer Reportage aus der Stadt. Im Zentrum von Sudscha seien an einigen Gebäuden Einschusslöcher zu sehen, das sei aber "kein Vergleich zur totalen Verwüstung, die Russland in der Ukraine angerichtet hat". Die 6000-Einwohner-Stadt ist anscheinend ohne großen Kampf eingenommen worden. Das zeigt, wie überrascht die Russen waren, als die Ukrainer plötzlich einmarschiert sind.
Inzwischen ist das Stadtzentrum von Sudscha nahezu menschenleer, nur am Stadtrand seien Einwohner unterwegs, berichtet "Foreign Policy". Die russischen Flaggen wurden eingeholt, dafür ukrainische gehisst. Auch eine Flagge der tschetschenischen Republik Itschkeria hängt im Zentrum von Sudscha. Die Tschetschenen haben einst gegen Moskau Unabhängigkeitskriege geführt. Von einer Lenin-Statue ist nur noch ein Sockel mit einer verstümmelten Büste übrig. Eingenommen haben die Ukrainer auch eine Gasmessanlage von Gazprom in der Nähe von Sudscha. Es ist die letzte Betriebsstelle der einzigen noch funktionierenden Gaspipeline von Russland nach Europa.
Dritte Front ist Dilemma der Ukraine
Aber was macht die Ukraine aus ihrer Kursk-Offensive? Bisher ist ihr Plan nicht aufgegangen. "Wir sehen, dass die Russen vor allem aus dem Raum Charkiw und nicht aus dem Raum Donbass Kräfte abgezogen haben", beschreibt Oberst Markus Reisner vom Österreichischen Bundesheer bei ntv die Lage. "Wir erkennen trotzdem, dass der Köder, den die Ukrainer den Russen hier hingelegt haben, nicht geschluckt worden ist. Die Russen sind im Donbass nach wie vor im Angriff. Aber es ist momentan nicht so, dass sie einen Durchbruch erzielen."
An den verschiedenen Fronten im Ukraine-Krieg herrscht seit Monaten größtenteils eine Pattsituation. Keine der beiden Armeen hat zuletzt größere Durchbrüche erzielt. Das Dilemma für die Ukraine: Weil sie in Kursk noch eine weitere Front eröffnet hat, wird es an den Frontabschnitten im eigenen Land eher komplizierter als einfacher. Kiew muss mit derselben Zahl an Soldaten mittlerweile drei statt zwei Fronten verteidigen: in der Region Charkiw, im Donbass und in Kursk.
"Hin und Her, gerade in Kursk"
Größere Offensiven sind für die ukrainische Armee deshalb nirgendwo möglich. Es geht nur darum, den Status quo so gut es geht zu halten. "Weil die Ukraine nicht 'all in' gehen kann, ist es so, dass es jetzt zu einem Hin und Her kommt, gerade in Kursk", erklärt Reisner. "Es ist derzeit nicht klar erkennbar, welche Seite die Oberhand gewinnt." Aber auch in diesem Fall stehe die Ukraine vor einem Problem, wie Reisner bei ntv deutlich macht: "Je länger diese Situation andauert, desto mehr begünstigt sie die russische Seite. Die Russen haben nach wie vor Ressourcen, um die Ukraine zu zermürben. Mit Gleitbomben, Artillerie, Raketenwerfen. Das ist das Dilemma, vor dem die Ukraine steht."
Trotzdem ist es für die Ukraine derzeit keine Option, sich aus Kursk wieder zurückzuziehen. Tatsächlich ist das Überraschungs-Manöver auf russischem Boden gerade die größte Hoffnung der Ukraine. Nur wenn Kiews Truppen in Kursk ihre Stellungen halten, hat die Ukraine etwas in der Hand, sollte es zu Verhandlungen mit Russlands Präsident Putin kommen.
Kursk ist Kiews Verhandlungsmasse. Momentan ist der Kremlchef aber nicht interessiert an Gesprächen. Die Ukraine muss ihre Stellungen in Kursk wohl noch monatelang halten. Ausreichend Munition bekommt die Armee dafür jedenfalls inzwischen, berichtet der "Kyiv Independent". Jeden Monat schickt eine Initiative unter Führung von Tschechien bis zu 100.000 Schuss Munition.
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