Wer vermutet im Nachbarn schon einen russischen Spion - vermutlich niemand. Der britische Journalist Shaun Walker hat die unglaublichen Spionagefälle des russischen Geheimdienstes in seinem neuen Buch "Russia's Most Audacious Spies and the Plot to Infiltrate the West" aufgeschrieben. Mit ntv.de spricht er darüber, wie russische Geheimagenten bis heute unter falscher Identität den Westen ausspionieren. Walker nennt sie "Illegale" - Spione ohne diplomatischen Schutz.
ntv.de: Gibt es auch heute noch russische Geheimagenten, die getarnt unter falschem Namen den Westen ausspionieren?
Shaun Walker: Ja. Wir wissen nur nicht, wie viele es sind. Es ist unglaublich schwer, Illegale, die sich in westliche Gesellschaften eingeschlichen haben, aufzuspüren. In der Regel kommt man sie nur enttarnen, wenn jemand aus den Reihen des russischen Geheimdienstes überläuft.
Über wie viele Personen reden wir?
Eine genaue Zahl ist schwierig abzuschätzen. Es gab viele Momente, in denen wir dachten, das Programm ergebe für Russland keinen Sinn mehr - aber die Russen machten immer weiter. Nach einer großen Verhaftungswelle 2010 dachten alle, das könnte jetzt das Ende der Illegalen sein, weil damals ein Überläufer, also ein ehemaliger russischer Agent, dem FBI so viel Preis gegeben hatte. Aber nein, danach wurde eine ganz neue Generation an Illegalen in die Welt ausgesendet. Es könnten zwei sein, es könnten auch fünfzig sein - verteilt überall in der westlichen Welt. Wir wissen nicht, wie viele unter uns leben. Aber es ist ziemlich klar, dass sie weiter Illegale ausbilden und weiter Illegale in andere Länder schicken.
Was sind Illegale?
Es gibt einerseits Spione, die diplomatische Immunität haben, weil sie selbst Diplomaten sind oder für Botschaften arbeiten. Das sind legale Spione. Illegale sind demgegenüber Spione ohne diplomatischen Schutz. Diese Menschen leben unter falscher Identität außerhalb ihres Heimatlandes, um zu spionieren. Heute nutzen viele Geheimdienste diese Form der Spionage.
Woher kommt diese Art der Spionage?
Diese Spionagetechnik hat ihre Wurzeln im bolschewistischen Untergrund. Vor 1917 lebten viele Mitglieder der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands unter falscher Identität im Exil. Sie waren also Illegale. Und als sie nach der Oktoberrevolution die Macht in Russland übernahmen, übertrugen sie dieses Konzept auch auf den Geheimdienst. Später wurden ganz normale Sowjetbürger dazu ausgebildet, sich als Ausländer auszugeben, um zu spionieren.
Sie haben ein Buch über diese Art russischer Geheimagenten und ihre Lebensgeschichten geschrieben. Eigentlich arbeiten Geheimdienste doch im Geheimen - wie sind Sie an die Informationen gekommen?
Die Recherche war schwierig. Die Archive des sowjetischen Geheimdienstes sind geschlossen. Und der Pressedienst des heutigen russischen Geheimdienstes, des Sluschba wneschnei raswedki (SVR), ignorierte meine Anfragen. Ich habe mich intensiv mit der Arbeit des ehemaligen KGB-Archivars Wassili Mitrochin befasst, der jahrelang Tag für Tag heimlich Akten aus dem Archiv kopierte, bis er 1984 aus dem Dienst ausschied. Tausende Seiten mit Notizen, die Mitrochin in seiner Datscha außerhalb von Moskau abgetippt hat, können heute in einem Archiv in Cambridge eingesehen werden, viele davon behandeln die Arbeit der Illegalen. Und ich habe mit vielen ehemaligen Illegalen gesprochen, aber auch mit Menschen aus dem Umfeld ihrer falschen Identität.
Was machen ehemalige Illegalen heute?
Die Mehrheit der ehemaligen Illegalen lebt heute in Russland. Viele von ihnen arbeiten noch immer für den russischen Geheimdienst, auch wenn sie eigentlich schon im Ruhestand sind. Einige von ihnen bilden die neue Generation Illegaler aus. Rechtlich dürfen sie gar nicht darüber sprechen. Viele Informationen sollen immer noch geheim bleiben. Aber ich habe ehemalige Illegale gefunden, die bereit waren, mit mir über bestimmte Aspekte ihres Lebens zu sprechen.
Worüber haben Sie gesprochen?
Die ehemalige Illegale Elena Vavilova zum Beispiel hat mir darüber erzählt, wie sie es empfunden hat, in die USA zu ziehen und dort zu leben. Elena und ihr Mann Andrey Bezrukov haben mehr als 20 Jahre unter den Namen Tracy Lee Ann Foley und Donald Heathfield in den USA und Kanada gelebt. Aber um neben ihrer Gefühlslage auch herauszufinden, was sie in dieser Zeit wirklich gemacht hat, kann man besser ihre FBI-Akte lesen. Die Ehemaligen erzählen heute sicher nicht ganz offen und ehrlich, was sie als Illegale getan haben. Aber auch wenn man nie die ganze Geschichte erzählt bekommt, kann man doch die Puzzlestücke zusammenfügen.
In Ihrem Buch stehen einige unglaubliche Geschichten. Wie haben Sie die Puzzleteile zusammengefügt?
Ich habe mir immer wieder bewusst gemacht, dass ich mit jemandem spreche, der dazu ausgebildet wurde, überzeugend zu lügen. Alle Illegalen, mit denen ich gesprochen habe, waren sehr charmant. Sie sind gut darin, mit anderen zu sprechen und neue Kontakte zu knüpfen. Das ist Teil ihres Jobs. Und nachdem ich jetzt schon lange als Journalist arbeite, habe ich einen ziemlich guten Instinkt dafür, wann jemand ehrlich ist und wann nicht. Ich habe versucht, eine zweite oder dritte Quelle für die Informationen zu finden. Und als ich alle Informationen und Quellen miteinander verglichen habe, konnte ich tatsächlich etwas aufschreiben, das zumindest ein Versuch war, eine wahre Geschichte zu erzählen.
Die Lebensgeschichte von Elena Vavilova rahmt die Erzählung Ihres Buches ein. Sie beginnen mit ihrer Verhaftung 2010. Damals wurden einige Illegale in den USA auf einen Schlag verhaftet. Warum haben Sie sich dazu entschieden, ihre Geschichte zu erzählen?
Ich habe im Buch bewusst Spionagegeschichten ausgewählt, die Momente der russischen und sowjetischen Geschichte widerspiegeln. Elena und ihr Mann Andrey waren mehrere Jahrzehnte Illegale, ihre Geschichte reicht von kurz vor der Perestroika-Zeit über den Zusammenbruch der Sowjetunion bis zu ihrer Verhaftung 2010. Und die Geschichte der Familie war diejenige, die zuerst mein Interesse an dem Illegalen-Programm geweckt hat.
Was genau hat Ihr Interesse geweckt?
Damals habe ich in den Nachrichten die Geschichte von Tim und Alex, die Söhne von Elena und Andrey, gelesen. Tim war damals 20 und Alex 16 Jahre alt. Sie wussten nicht, dass ihre Eltern Illegale waren. Nachdem ihre Eltern vom FBI verhaftet wurden, verklagten sie die kanadische Regierung. Sie wollten die kanadische Staatsbürgerschaft zurück, die ihnen nach der Verhaftung ihrer Eltern aberkannt wurde. Über ihren Anwalt habe ich versucht, Kontakt zu ihnen aufzunehmen, und nach Monaten der Überzeugungsarbeit haben die beiden schließlich mit mir gesprochen. Im "Guardian" habe ich dann 2016 ihre Geschichte aufgeschrieben. Und danach habe ich immer weiter zur Geschichte des Programms recherchiert. So kam das ganze Projekt ins Rollen.
Auch Lenin, Trotzki und Stalin waren Illegale. Wie haben Illegale die russische Politik geprägt?
Das sowjetische Regime war seit seiner Geburt tief in dieser Form der geheimen Spione verwurzelt. Die bolschewistische Partei baute aus dem geheimen Untergrund ihre Existenz auf: mit Verkleidungen, Codenamen und anderen Täuschungen - alles, was heute unter Spionage fällt. Russische Spione lebten über Jahre und Jahrzehnte unter falscher Identität im westlichen Ausland. Das Konzept blieb im Grunde gleich. Erst unter Lenin, dann unter Stalin und über den gesamten Kalten Krieg, bis in die Gegenwart. Putin ist in diesem geschlossenen, paranoiden System aufgewachsen. Das hat ihn nachhaltig geprägt.
Was können wir über die Illegalen lernen, um Putin besser zu verstehen?
Illegale zu rekrutieren, war eine seiner Aufgaben in Dresden, wo als KGB-Unterstützungsoffizier in den 80er-Jahren bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion mit seiner Familie lebte. Putin spricht nicht viel über seine Zeit beim KGB. Vor wenigen Jahren hat er mal gesagt, die Illegalen seien der unglaublichste Teil des KGB. In meinem Buch beschreibe ich an einer Stelle, wie sich Putin 1999 daran erinnert, dem KGB beigetreten zu sein. Er war begeistert. Diese Begeisterung für das Programm der Illegalen hat Putin sich bewahrt.
Können Sie diese Begeisterung erklären?
Für Putin ist die Idee der Illegalen etwas einzigartig Russisches. Er identifiziert sich damit und betont immer wieder, dass kein anderes Land solche Agenten hat. In gewisser Weise stimmt das auch. Putin glaubt, Illegale sind die wunderbarsten und effektivsten Spione, die es gibt. Illegale sind russische Geheimagenten, die über Jahre und Jahrzehnte im Ausland unter falscher Identität leben, ihr Umfeld täuschen und sogar ihre Kinder belügen, - alles für das Wohl des Mutterlandes. Diesen Mythos bauen sie seit Jahren gezielt auf. In der Zeit der Sowjetunion hielt der KGB das Programm unter Verschluss - es wurde kaum in der Öffentlichkeit darüber gesprochen. Das ist heute anders.


Andrey Bezrukov und Elena Vavilova enthüllen im Sommer 2020 ein Denkmal für sowjetische Geheimdienstoffizier in Moskau.
(Foto: picture alliance/dpa/TASS)
Was hat sich verändert?
Seit Kurzem werden Statuen für Illegale errichtet. Monatlich werden Dokumentationen über Illegale im Fernsehen gezeigt. Andrey Bezrukov, ist heute häufig als Analyst im Kreml-Fernsehen zu sehen. Er spricht dort über den Krieg in der Ukraine und wie der Westen Russland zerstören will.
Wie wichtig sind Illegale heute, beispielsweise beim Krieg in der Ukraine?
Der russische Angriff auf die Ukraine hat viele Dinge verändert. Die meisten legalen Spione, die unter diplomatischem Schutz arbeiteten, wurden ausgewiesen und mussten nach Russland zurückkehren. Russland hat deshalb einen Teil der Arbeit, die vorher von legalen Spionen gemacht wurde, auf Illegale übertragen, weshalb sie wohl auch leichter zu erwischen waren. Denn seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine wurden einige Illegale an verschiedenen Orten in kurzer Zeit aufgedeckt.
Haben Sie ein Beispiel?
Zum Beispiel den Fall von Artem Dultsev und Anna Dultseva. Unter falschen Namen hatten sie seit 2017 mit ihren Kindern in Slowenien gelebt. Als sie dort Ende 2022 verhaftet wurden, fand die Polizei Hunderttausende Euro in bar in ihrem Haus. Das deutet darauf hin, dass sie möglicherweise andere Agenten bezahlen sollten. Das ist normalerweise keine Aufgabe, die man von einem Illegalen erwarten würde.


Der russische Präsident Wladimir Putin begrüßt am Moskauer Flughafen die im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freigelassenen russischen Staatsbürger: Darunter auch Artem Dultsev, Anna Dultseva und ihre Kinder.
(Foto: via REUTERS)
Nach einem Gefangenenaustausch kehrten Artem und Anna zurück nach Russland. Putin empfing sie persönlich am Flughafen mit rotem Teppich und Blumen. Auch das ist Teil der Glorifizierung der Illegalen.
Die Mythenbildung um die Illegalen nimmt unter Putin immer mehr zu. Vor fünfzehn Jahren war das noch anders: Als Elena und Andrey 2010 mit weiteren Illegalen aus Amerika nach Russland zurückkehrten, gab es keinen derartigen Empfang. Bei geheimen Treffen im Kreml konnten die zurückgekehrten Illegalen mit Putin und auch mit dem damaligen russischen Präsidenten Dimitri Medwedew sprechen. Sie bekamen Jobs, neue Wohnungen und wurden wieder in die Gesellschaft integriert - aber alles still und heimlich. Heute geht das nicht ohne öffentlichen Paukenschlag: Nicht nur hat Putin die zurückkehrenden Helden am Flughafen willkommen geheißen. Anna, Artem und ihre Kinder waren wenige Tage später im Kreml-Fernsehen zu sehen.
Warum geht es bei dieser medialen Inszenierung?
Es geht darum, ein positives Bild vom russischen Mutterland und seinen Helden zu zeichnen. Die Illegalen helfen sehr dabei, dieses Bild auszumalen. Aber es saßen nicht nur Illegale in dem Flugzeug - auch Wadim Krassikow, der Tiergartenmörder. Dass Putin die Ankommenden begrüßt, ist also eine Art Zeichen des Patriotismus.
Mit Shaun Walker sprach Rebecca Wegmann