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Reisners Blick auf die Front: "Die Ukraine versucht eine Art Befreiungsschlag"



Die ukrainische Armee stößt im Raum Kursk wieder auf russisches Gelände vor. Welche Chancen das hat und wie beide Kriegsparteien zu Beginn des neuen Jahres aufgestellt sind, erklärt Oberst Markus Reisner ntv.de.

ntv.de: Herr Reisner, gestern meldete die ukrainische Armee einen neuerlichen Vorstoß im russischen Gebiet von Kursk. Kann der Wirkung entfalten?

Markus Reisner: Aus meiner Sicht versucht die ukrainische Armee mit diesem Vorstoß, dem Versuch einer Gegenoffensive in Kursk, eine Art Befreiungsschlag. Mit dem Ziel, so viel Gelände wie möglich in Besitz zu nehmen, um vor dem 20. Januar, wenn Donald Trump in den USA das Präsidentschaftsamt übernimmt, in eine gute Verhandlungsposition zu kommen. In den vergangenen Wochen hatten die Ukrainer in Kursk immer mehr Boden verloren.

Sie sagen "Versuch einer Gegenoffensive" - ist es keine?

Mit dem Begriff "Offensive" wäre ich noch vorsichtig. Beim Gegenangriff im Raum Kursk sind im Moment Verbände zweier Brigaden involviert. Für eine Offensive bräuchte es größere Verbände, sie müsste über alle Teilstreitkräfte geführt werden, die gemeinsam im Einsatz sind. So massiv ist es derzeit nicht. Man braucht auch mindestens lokale Luftüberlegenheit. Auch die fehlt.

Markus Reisner ist Oberst im Österreichischen Bundesheer und ein renommierter Experte für den Ukrainekrieg. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Front. Markus Reisner ist Oberst im Österreichischen Bundesheer und ein renommierter Experte für den Ukrainekrieg. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Front.

Markus Reisner ist Oberst im Österreichischen Bundesheer und ein renommierter Experte für den Ukrainekrieg. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Front.

(Foto: privat)

Aber vorwärts kommen sie schon?

Wir sehen schon einen signifikanten Angriff der Ukrainer Richtung Nordosten, wo sie mehrere Kilometer vorgestoßen sind und bereits wieder Gelände in Besitz genommen haben. Die Russen sind aber sofort mit ihren Aufklärungsmitteln in der Lage, diese Angriffe zu identifizieren und dagegen wirksam zu werden. Wir sehen Videos von ukrainischen Angriffskolonnen, die von russischer Seite mit Drohnen bekämpft werden. Zwar haben die Russen vielleicht jetzt nicht die massiven Kräfte in der Hinterhand, um den Angriff sofort im Keim zu ersticken, weil sie selbst auch geschwächt sind. Aber Sie können ihn über das Lagebild, über den Faktor Abnutzung, über die Zeitachse wieder zum Zusammenbruch bringen.

Anders als zu Beginn der Kursk-Offensive?

Ja, die war damals vor allem deshalb erfolgreich, weil die Ukraine zu Beginn die Russen im Prinzip hat "erblinden" lassen. Man hat in den Tagen zuvor eigene Drohnen eingesetzt, um russische Drohnen abzufangen, zum Teil Hunderte, so nimmt man an. Damit waren die Russen "blind" und die Ukrainer konnten angreifen. Man hatte sich mittels Drohnen eine gewisse Luftüberlegenheit geschaffen. Dann haben die Russen sich aber angepasst und begonnen, das Gebiet wieder zurückzuerobern.

Die Ukraine hat ein weiteres Kriegsjahr hinter sich gebracht. 2024 sollte ein Defensivjahr werden mit dem Fokus darauf, neue Kräfte aufzubauen. Ist das gelungen?

In der Defensive hat die Ukraine signifikant Geländeabschnitte verloren. Zwei Zahlen werden kolportiert: Von 3500 Quadratkilometern verlorenem Gelände ist zumeist die Rede, der US-Thinktank Institute for the Study of War bilanziert sogar 4000 Quadratkilometer. Umgerechnet auf einzelne Tage ergibt das für die russischen Truppen oft bis zu zehn Quadratkilometer Geländegewinn am Tag. Die größten Fortschritte erzielten die Russen in Donezk auf der Linie von Awdijiwka bis Welyka Nowosyolka, wo sie rund 2400 Quadratkilometer besetzten.

Sind durch diese Geländegewinne noch viele Ukrainer unter russische Herrschaft gefallen?

Das ist ein großer Unterschied zum Beginn des Krieges: Damals gab es eine starke Fluchtbewegung Richtung Westukraine. Viele sind aus Regionen nahe der Front geflohen, denn die Russen haben umkämpfte Gebiete faktisch dem Erdboden gleichgemacht. Dort konnte niemand mehr bleiben. Entsprechend war in den eroberten Orten keine Bevölkerung mehr vorzufinden.

Ziel der Russen war ein operativer Durchbruch. Den haben sie nicht geschafft, oder?

Nein. Moskau hatte einen solchen Durchbruch intendiert, vor allem südlich von Pokrowsk, er ist aber nicht gelungen.

Allerdings haben die Russen in ihrer Offensive das Momentum zurückgewonnen, wenn auch unter schwersten Verlusten. Ukrainische Quellen sprechen von 430.000 Toten und Verwundeten. Das Verhältnis liegt bei etwa 1 zu 3. Auf drei Verwundete kommt ein Toter. Dazu bis zu 1500 Kampfpanzer, knapp 3000 Kampfschützenpanzer und viel anderes Gerät. Die Russen haben nicht ewig Ressourcen und ihre Wirtschaft gerät zunehmend unter Druck. Entscheidend ist allerdings: Trotz dieses Drucks und dieser enormen Verluste sind die Russen vormarschiert. Und entscheidend ist am Ende nicht, wie lange Russland den Krieg durchhält, sondern wir lange die Ukraine durchhalten kann.

Wie steht Kiew Anfang des neuen Jahres da?

Sie hat in Russland etwa 500 Quadratkilometer erobert. Das gab es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Auf ukrainischer Seite nimmt aber vor allem die Erschöpfung deutlich zu. Die Mobilisierungsziele wurden nicht erreicht und das Personal fehlt an der Front, ebenso wie Gerät. Wir sehen eine zunehmende personelle Ausdünnung der ukrainischen Frontlinien, was den Russen immer wieder ermöglicht durchzusickern und Gelände zu erobern. Darum hat Kiew gegen Ende des Jahres beschlossen, weitere 160.000 Soldaten zu mobilisieren. Nun könnten bald auch Männer zwischen 18 und 25 Jahren eingezogen werden. Die Entscheidung dazu muss aber erst noch getroffen werden.

Sollen die neu mobilisierten Kräfte die Brigaden an der Front stärken oder werden mit ihnen neue Brigaden aufgestellt?

Kiew will 2025 in die Offensive gehen und braucht dafür freie Elemente, die neu zu bilden sind. Doch momentan sind die Probleme an der Front so akut, dass man Kräfte dorthin schieben müsste. Von einer Offensive scheint man derzeit weit entfernt. Der Kessel von Kurachowe ist faktisch eingedrückt, die Stadt selbst ist gefallen und etwa 90 Prozent des Kessels sind bereits in russischer Hand. Im Südraum Saporischschja gibt es den Verdacht, dass einerseits die Ukraine aber auch die Russen möglicherweise versuchen könnten, dort einen Angriff zu starten. Ich habe ja schon mehrmals angedeutet, dass es aus meiner Sicht nicht bei der Kursker Offensive bleiben wird. Ich denke, wir werden vor dem 20. Januar noch einige Überraschungen von ukrainischer Seite sehen. Eine davon war die Offensivbewegung in den letzten Tagen.

Den schafft die Ukraine trotz ihrer Mangelsituation?

Ein Vorteil, den die Ukraine hat: Sie kann ihren Mangel an Personal und Gerät zum Teil mit dem Einsatz von Drohnen ausgleichen, indem die Drohnen russische Angriffe vor allem auf der taktischen Ebene abwehren. Das ist derzeit die Hauptfunktion dieses neuen Waffensystems.

Wie läuft das genau ab?

Mit ihren selbst produzierten First-Person-View-Drohnen schaffen es die Ukrainer, ihren Gegner im unmittelbaren Kampf auf Distanz zu halten. Zum einen durch das Lagebild. Wenn es also ausgedünnte Abschnitte an der Front gibt, lassen sie sich per Drohnen überwachen. Zum anderen setzt die Armee Drohnen beim Angriff auf gegnerische Panzer ein. Die Angriffsdrohnen machen es den Ukrainern möglich, sich noch immer gegen die angreifenden Russen zu verteidigen. Wenn es hier zu einem Abbruch der Versorgung kommen sollte, hätte das signifikant Einfluss auf die Lage an der Front. Stärkeren Einfluss als zum Beispiel ein Versorgungseinbruch bei Artilleriemunition.

Droht das denn? Etwa durch einen Engpass bei der Drohnenproduktion?

Das kann absolut passieren. Bis Ende 2024 hatte sich die Ukraine ja vorgenommen, eine Million Drohnen zu produzieren. Das war natürlich auch Propaganda, aber man hat große Stückzahlen hergestellt und sogar Drohnen neu entwickelt, die weitreichende Einsätze gegen Ziele auf russischem Gebiet fliegen können. Bei den kleineren Drohnen wird der Grundkörper im 3D-Drucker angefertigt. Dazu braucht es noch Platinen, auf denen die elektronischen Steuerungssysteme montiert sind, und die Motoren. Motoren kaufen die Ukrainer in großer Zahl und sehr billig im Ausland und hier vor allem von China. Aber als Reaktion auf Sanktionen gegen die eigene Wirtschaft hat China Exportbeschränkungen erhoben. Nun wird es für die Ukrainer schwieriger, Motoren oder ähnliches zu kaufen.

Könnten sie die Motoren auch selbst herstellen?

Theoretisch ja, aber es wird zunehmend schwieriger durch die Angriffe der Russen auf die kritische Infrastruktur. Die strategische Situation der Ukraine ist leider vor allem geprägt durch die schweren russischen Luftangriffe. 2024 war das schwierigste Kriegsjahr bislang mit Blick darauf, weil die Russen es zunehmend schaffen, die kritische Infrastruktur der Ukraine zu treffen. Das muss man sich mal klar machen, wir haben täglich Angriffe mit 80 bis 100 Drohnen. Auch wenn viele abgeschossen werden, übersättigt diese Masse doch Kiews Fliegerabwehr. Das schwebt als Damoklesschwert über der Ukraine: Denn um einen derartigen Abnutzungskrieg, wie wir ihn hier sehen, lange führen zu können, braucht man vor allem die kritische Infrastruktur. Und die harte Phase des Winters hat das Land noch vor sich.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

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