In Ungarn sollen Teilnehmer:innen von Pride-Demonstrationen jetzt per Gesichtserkennung identifiziert und mit Bußgeldern bestraft werden. Bürgerrechtsorganisationen hatten vor einem solchen Szenario gewarnt, als die EU ihre laschen Regeln für biometrische Identifikation verabschiedete. Das ungarische Gesetz verletzt ihrer Meinung nach dennoch gleich mehrere EU-Gesetze.

Ein neues Gesetz in Ungarn, das den Einsatz von Gesichtserkennung vorsieht, um Teilnehmer:innen auf Pride-Demonstrationen zu identifizieren, verstößt gegen geltende EU-Gesetze. Zu diesem Urteil kommen mehrere Expert:innen, die sich mit den Auswirkungen der Technologie auf Bürgerrechte beschäftigen.
Vergangene Woche beschloss das ungarische Parlament im Schnelldurchlauf ein Gesetz, das Pride-Veranstaltungen verbietet. Die Polizei darf auch Gesichtserkennung einsetzen, um Teilnehmer:innen solcher Demonstrationen zu identifizieren und mit Geldstrafen zu belegen. Damit erreicht Viktor Orbáns Repression gegen queere und trans* Menschen in Ungarn einen neuen Höhepunkt.
Die Empörung ließ nicht lange auf sich warten. Das Gesetz greift die Grundrechte von Minderheiten und die Versammlungsfreiheit an. Die EU-Kommission erklärte, sie beobachte die Lage genau und werde „nicht zögern, gegebenenfalls Maßnahmen zu ergreifen“.
Für Expert:innen, die die Entstehung der europäischen KI-Verordnung verfolgt haben, kam das hingegen kaum überraschend. „Aus bürgerrechtlicher Sicht ist dies eine Katastrophe, wenn auch eine sehr vorhersehbare“, sagt Ella Jakubowska von European Digital Rights.
Nikolett Aszódi von AlgorithmWatch ergänzt: „Wir sind nur überrascht darüber, dass manche politischen Entscheidungsträger*innen von diesem Plan überrascht sind.“
Und auch Laura Caroli, die als Mitarbeiterin eines EU-Abgeordneten die KI-Verordnung mit ausgehandelt hat, betont: „Die EU-Kommission hatte von Anfang an alle Informationen, um dies vorherzusehen.“
Staaten haben klares Verbot verhindert
Vor etwas mehr als einem Jahr verabschiedete das EU-Parlament nach jahrelanger Arbeit die KI-Verordnung. Einer der größten Streitpunkte: Die Regeln für den Einsatz von Gesichtserkennung, juristisch „biometrische Fernidentifizierung“.
Das Parlament hatte ein klares Verbot gefordert. Zu groß sei die Gefahr für Grundrechte, wenn solche Technologien in der EU eingesetzt würden. Doch kurz vor Schluss weichten die Mitgliedstaaten im Rat die Verbote wieder auf. Sie wollten auf die Fahndungsmöglichkeiten nicht verzichten und verhandelten zahlreiche Ausnahmen in den Gesetzestext.
„Über Jahre haben wir die Entscheidungsträger*innen immer wieder gewarnt und aufgefordert, die gefährlichen Schlupflöcher in der KI-Verordnung zu schließen, die zu Massenüberwachung und Machtmissbrauch führen können“, sagt Nikolett Aszódi von AlgorithmWatch.
Ohne Erfolg. Selbst eine Gesichtserkennung in Echtzeit ist jetzt in der EU gesetzlich erlaubt – für eine Reihe schwerer Straftaten oder die Suche nach Vermissten. Was aber noch schwerer wiegt: Geschieht die Identifikation nicht in Echtzeit, sondern nachträglich, dürfen staatliche Behörden sie mit noch weniger Einschränkungen einsetzen. Was „nachträglich“ in so einem Zusammenhang bedeutet, ob es sich um Stunden oder Wochen handeln muss, ist nicht geklärt.
Demonstration als Ordnungswidrigkeit
Die EU-Abgeordnete Svenja Hahn war eine der schärften Kritiker:innen der laschen Auflagen. „Die Hürden für den Einsatz nachträglicher biometrischer Identifizierung sind extrem niedrig“, sagt die Liberale.
Diesen Spielraum will Ungarn jetzt nutzen. Bislang ist nicht bekannt, wie genau die ungarische Polizei Gesichtserkennung zur Identifizierung der Pride-Teilnehmer:innen einsetzen soll. Im Gesetzestext steht dazu nur, dass Behörden in Zukunft „zur Feststellung der Identität einer Person, die der Begehung einer Ordnungswidrigkeit verdächtigt wird“ auch auf Gesichtserkennung zurückgreifen dürfen.
Gleichzeitig ändert das Gesetz das Versammlungsrecht und verbietet Versammlungen, die gegen das berüchtigte ungarische „Kinderschutzgesetz“ von 2021 verstoßen. Dieses Gesetz soll vorgeblich Kinder schützen. Tatsächlich setzt es Homosexualität mit Pädophilie gleich und führt etwa dazu, dass Buchläden Bücher zu Homosexualität oder Transsexualität nicht mehr in der Abteilung für Jugendbücher anbieten dürfen.
Das neue Gesetz macht es nun auch zur Ordnungswidrigkeit, Veranstaltungen zu organisieren oder zu besuchen, die „Abweichungen von der Identität des Geburtsgeschlechts, Geschlechtsumwandlung oder Homosexualität propagieren oder darstellen“. Bei einem Verstoß drohen Geldstrafen von bis zu 200.000 Forint (ca. 500 Euro).
Gesichtserkennung bei Bagatelldelikten ausgeschlossen
Die EU-Kommission prüft derzeit, ob Ungarn mit dem neuen Gesetz gegen EU-Gesetze verstößt.
Die Antwort dürfte wohl „ja“ lauten. Denn selbst mit all ihren Schlupflöchern ist laut KI-Verordnung eine nachträgliche biometrische Identifikation nur erlaubt, wenn ein Straftatverdacht besteht. Eine Teilnahme an der Pride gilt jedoch als Ordnungswidrigkeit und zieht höchstens ein Bußgeld nach sich. In einem solchen Fall greift die Verordnung nicht, sagt etwa Ella Jakubowska von EDRi.
Dieser Teil der KI-Verordnung ist zwar noch nicht in Kraft, die Regeln greifen erst ab 2026. Doch schon jetzt gilt laut einer anderen Richtlinie der EU für die Strafverfolgung, dass die Verarbeitung sensibler biometrischer Daten unbedingt erforderlich sein muss. Dadurch ist eine Verwendung der nachträglichen Gesichtserkennung bei Bagatelldelikten ausgeschlossen, sagt auch Kilian Vieth-Dietlmann von AlgorithmWatch.
Ella Jakubowska weist zudem darauf hin, dass Ungarn nicht nur die Regeln der KI-Verordnung beachten muss. „Wir haben immer noch die EU-Menschenrechts- und Datenschutzgesetze. Die Gesichtserkennung zur Identifizierung von Pride-Teilnehmern wird immer eine grobe Verletzung der Privatsphäre, der Gleichberechtigung und vieler anderer Menschenrechte darstellen, ganz gleich, was die KI-Verordnung sagt.“
Das betont auch Szabolcs Hegyi von der Hungarian Civil Liberties Union, die sich für Grundrechte in Ungarn einsetzt. Die Einschränkung der Versammlungsfreiheit im neuen Gesetz verstoße gegen die EU-Grundrechtecharta und die europäische Menschenrechtskonvention.
Gegen Ungarn läuft bereits ein Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union wegen des Anti-LGBTQI-Gesetzes. Hegyi vermutet, dass auch die neuesten Änderungen des Versammlungsrechts ein solches Verfahren nach sich ziehen werden. Auch der ehemalige EU-Abgeordnete der Piratenpartei Patrick Breyer hält ein solches Verfahren für erfolgversprechend. Ein Urteil wird allerdings noch lange auf sich warten lassen. Die Hungarian Civil Liberties Union, Amnesty International und weitere Organisationen fordern daher, dass die EU-Kommission sofort die Aussetzung des neuen Gesetzes beantragt – im Rahmen des laufenden Gerichtsverfahrens.
EU-Parlament macht Weg frei für KI-Verordnung
Weitere Staaten wollen Gesichtserkennung
Das ungarische Gesetz ist ein extremes Beispiel für den Einsatz von Gesichtserkennung im öffentlichen Raum. Doch auch andere EU-Staaten versuchen derzeit die Möglichkeiten auszuschöpfen, die ihnen die KI-Verordnung lässt. In Deutschland verhandeln Union und SPD über eine Koalitionsvertrag. Laut Entwürfen wollen sie Gesichtserkennung an Bahnhöfen, Flughäfen und weiteren Orten einführen.
Die zerbrochene Ampel-Koalition hatte sich zunächst für ein klares Verbot einer solchen Überwachung ausgesprochen, ihre Haltung aber später aufgeweicht.
Kilian Vieth-Ditlmann von AlgorithmWatch sagt: „Jetzt braucht es ein klares Bekenntnis zu einem vollständigen Verbot biometrischer Massenüberwachung. Jeder freiheitliche Staat, der versucht, biometrische Gesichtserkennung im Internet oder im öffentlichen Raum einzuführen, leistet indirekt auch Orbáns illiberaler Agenda Vorschub.“ Ein Vorschlag, wie man das Verbot im Bundesdatenschutzgesetz verankern könnte, liege auf dem Tisch.
Der Widerstand wächst
In Ungarn wächst derweil der Widerstand gegen die neuesten Verschärfungen. Tausende folgten am Dienstag einem Protest-Aufruf und blockierten mehrere Brücken in Budapest. Der Bürgermeister von Budapest betont, er werde die Pride-Parade im Sommer weiterhin erlauben. Auch die Organisator:innen der Pride zeigen sich entschlossen.
Dávid Bedő ist Fraktionschef der ungarischen Oppositionspartei Momentum. Bei der Abstimmung des Gesetzes zündete er eine Rauchbombe im Parlament. Jetzt kündigte Bedő einen Fonds an, um die Bußgelder für Teilnehmer:innen zu begleichen. Auf Facebook schreibt er: „Habt keine Angst, zur Pride zu kommen.“
Auch die Hungarian Civil Liberties Union ermutigt dazu, sich nicht abschrecken zu lassen. Eine Ordnungswidrigkeit führe nicht zu einem Strafregistereintrag. Und je mehr Menschen zur Pride kämen, umso schwerer werde es für die Behörden, jede Person zu identifizieren.
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