2 days ago

Philadelphia ist "Kriegsgebiet": Ein Zombie-Drogencocktail überschwemmt die USA



Erst Opioide, dann Fentanyl, nun Tranq: Neue Drogen machen die tödlichste Bedrohung in den USA noch tödlicher, warnt die Drogenbehörde. Auf den Straßen von Philadelphia vegetieren die Süchtigen vor aller Augen. "Es ist ein Kriegsgebiet", sagt ein Helfer.

An der Kreuzung von Kensington und Allegheny Avenue im Norden Philadelphias setzt Brian Parkhill eine große Tüte mit kleinen Wasserflaschen, Socken und Naloxon vor dem Esperanza Health Center ab. "Hier ist das Land der Drogendealer", sagt er, "seit Jahrzehnten." Der 51-Jährige weiß, wovon er spricht. Brian Parkhill war selbst 15 Jahre lang süchtig, seit sieben Jahren ist er sauber. Ein Passant läuft an ihm vorbei und deutet in die Richtung, aus der er kam: "Hey, da drüben stirbt jemand."

Brian Parkhill stellt Kontakte zwischen Angehörigen und Süchtigen in Philadelphia her. Brian Parkhill stellt Kontakte zwischen Angehörigen und Süchtigen in Philadelphia her.

Brian Parkhill stellt Kontakte zwischen Angehörigen und Süchtigen in Philadelphia her.

(Foto: Roland Peters)

Jetzt muss es schnell gehen. Parkhill läuft zügig die Allegheny Avenue hoch. Seine rastlosen Augen fahren über die regungslosen, an Hauswänden aufgereihten Menschen und die stehend vornübergebeugten auf dem Bürgersteig; er blickt prüfend durch den Autoverkehr hindurch auf die andere Seite, in die vermüllten Seitenstraßen, wo weitere lagern. Dann sieht er eine Frau weiter vorne, sie liegt zuckend auf dem Boden, schreit, ihre zu Krallen verkrampften Hände kratzen mit aller Kraft über die eigene Haut, die Augen wild. Was hat sie genommen?

Es ist ein Mittwoch im August, ein Tag wie jeder andere seit den 1970er-Jahren, nachdem Kensington zum offenen Drogenmarkt wurde. Eine Grünanlage an der gleichnamigen Hauptstraße wird nur "Nadelpark" genannt. Ganze Straßenzüge in Philadelphias Stadtteil sind unter anderem durch Heroin und andere Opioide, süchtig machende Schmerzmittel, zur Zombiezone geworden. Die Stadt im Bundesstaat Pennsylvania ist eines der Zentren der Opioid-Krise. Im Jahr 2023 starben in den USA mehr als 100.000 Menschen an einer Überdosis, etwa 70.000 davon am synthetischen Fentanyl. Das Gegenmittel heißt Naloxon, kostet aber 20 bis 30 Dollar pro Dosis; Geld, das viele Süchtige nicht haben.

Blick in eine der Seitenstraßen. Blick in eine der Seitenstraßen.

Blick in eine der Seitenstraßen.

(Foto: Roland Peters)

Drogencocktails mit Tranq

Die neue Welle, das ist Xylazin, auch Tranq genannt, ein Beruhigungsmittel für Pferde. Die Tiere betäubt es bis zu 90 Minuten lang. Die vielen Hunderten Abhängigen, die in Kensington leben, spritzen es, schniefen, schlucken oder rauchen den Stoff, häufig mit Fentanyl vermischt - und sind danach bis zu zehn Stunden so gut wie regungslos.

Die US-Antidrogenbehörde DEA veröffentlichte bereits im Mai 2023 eine Warnung. "Xylazin macht die tödlichste Drogenbedrohung, der unser Land je ausgesetzt war, Fentanyl, noch tödlicher", wird DEA-Chefin Anne Milgram zitiert. Die DEA hatte da bereits in 48 von 50 Bundesstaaten entsprechende Mischungen beschlagnahmt. Im Jahr 2022 waren ein Viertel des Fentanyls in Pulverform mit Tranq versetzt gewesen.

Kurz nachdem Parkhill die Frau auf dem Bürgersteig erreicht hat, bricht sie zusammen. Er ruft einen Krankenwagen, bleibt neben ihr; die Krämpfe setzen schnell wieder ein. Die Sanitäter sind nach ein paar Minuten da, binden die Frau auf eine Bahre und transportieren sie ab. "So geht das hier in Kensington den ganzen Tag", sagt Parkhill, "eine Überdosis nach der anderen." Was die Frau genommen hat, ist nicht hundertprozentig klar; er vermutet eine Mischung, die auch K2 enthält, ein synthetisches Cannabinoid, das unter anderem Halluzinationen und Krämpfe hervorrufen kann.

Geldmaschine legaler Suchtmittel

Die Opioid-Krise hatte Ende der 1990er-Jahre mit dem Schmerzmittel Oxycontin begonnen, von dem Patienten abhängig wurden. Noch heute muss sich die Inhaberfamilie Sackler von Purdue Pharma dafür vor Gericht verantworten. Sie und andere Hersteller traten wider besseres Wissen die Opioid-Welle los, bestachen unter anderem Ärzte mit Reisen. Sie bezahlten den wichtigsten Zwischenhändlern von Medikamenten Milliarden Dollar, damit diese den Zugang erleichterten und Ärzte ermutigten, Opioide zu verschreiben. Die Beteiligten verschlossen ihre Augen vor den Folgen. Das Land kämpft weiterhin dagegen an.

Das synthetische Opioid Fentanyl machte die Krise monumental. Zunächst hatten mexikanische Drogenkartelle es aus China geschmuggelt und über die Grenze nach Norden geschickt. Inzwischen produzieren die Kartelle Sinaloa sowie Cártel de Jalisco Nueva Generación die Droge selbst. Die Grundstoffe erhalten sie weiterhin größtenteils aus China. Doch die hohe Aufmerksamkeit für die Krise sowie der US-Handelskrieg mit China gefährdet die Profite. Die Organisationen arbeiten daran, sich noch unabhängiger zu machen: Sie werben gezielt Chemie-Ingenieure von mexikanischen Universitäten ab, um auch die Grundstoffe möglichst selbst herzustellen.

Parkhill wurde wie viele andere zunächst von Oxycontin abhängig, dann stieg er auf Heroin als Ersatzdroge um. Die Kartelle entdeckten das synthetische Fentanyl, das in der Herstellung viel günstiger und wesentlich wirksamer ist. Der Unterschied ist enorm. Etwa so, als würden Kneipengänger statt eines alkoholreduzierten Bieres plötzlich Getränke mit 95 Prozent Alkoholgehalt herunterspülen. Fentanyl brach wie ein Tsunami über die Vereinigten Staaten und die Drogenszene herein. Tranq verkompliziert die Krise. Die Konsumenten überdosieren sich ungewollt. Kippen um. Sterben.

Der kommende Präsident Donald Trump hat schon vor seinem Amtsantritt am 20. Januar in Richtung Peking und Mexiko-Stadt angekündigt: Würden die dortigen Regierungen nichts unternehmen, um den Fluss der Drogen über die Südgrenze zu schmälern, werde er Importzölle verhängen. Das ist gegen die Regeln der Welthandelsorganisation WTO, kümmert Trump aber offensichtlich nicht besonders. Er und sein Team spielen auch öffentlich mit Gedanken über einen US-Armee-Einsatz gegen die Kartelle im Nachbarland.

"Wir können bloß für sie da sein"

Über die Kensington Avenue rasen immer wieder Krankenwagen, darüber rattert eine Hochbahn. Das Territorium ist abgesteckt. Auf der einen Straßenseite warten die Dealer. Auf der anderen vegetieren ihre Kunden. Im Stadtteil leben etwa 700 von ihnen auf der Straße, geben die Behörden an. Andere Abhängige sind bei ihrem Dealer untergekommen; in manchem Gebäude hausen sie mit 20 bis 25 Menschen, erzählt Parkhill. Wenn Dealer eine neue Lieferung bekommen, verteilen sie manchmal kleine Probedosen gratis. Danach muss dafür bezahlt werden. Die Süchtigen sind ihre lebenden Verkaufsdrohnen.

"Es ist wie ein Kriegsgebiet", sagt Parkhill und verbessert sich sofort: "Es ist ein Kriegsgebiet." Hier ist er auch Kontaktmann für Eltern, die ihn anrufen, weil sie ihre abhängigen Kinder suchen, mit ihnen reden möchten. Wissen wollen, ob sie noch leben. Für manche Eltern ist er die letzte Hoffnung, zu ihren Kindern durchzudringen. Parkhill weiß, wie: Hilfe anbieten, urteilsfrei bleiben, Interesse und Zuneigung zeigen. "Wir sehen die Welt anders", meint er. Deshalb könne er anders mit den Süchtigen kommunizieren.

Manchmal ist es auch andersherum, so wie bei Sandra Sell. Ihr hatte Parkhill am Abend zuvor ein Video ihrer Tochter Shannon geschickt. "Ich brach zusammen", sagt die Mutter, sie und ihr Mann weinten. Sie erkannten ihr Kind kaum. Als sei Shannon in den fünf Jahren in Kensington um Jahrzehnte gealtert. "Sie war eine andere Person", Sandra Sell. Die stämmige 59-Jährige wohnt nicht in der Stadt, hat sich heute einen Tag freigenommen und ist mit ihrer Schwester zur Kensington Avenue gekommen, um nach Shannon zu suchen. Sie zeigt Fotos ihrer Tochter auf dem Handy. "Ist sie nicht bildhübsch?" Tränen rollen über ihre Wangen.

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Die inzwischen 39-jährige Tochter hatte eine Ausbildung zur Krankenpflegerin gemacht, in gut bezahlten Jobs gearbeitet, erinnert sich die Mutter; doch wegen einer Angststörung und der zerbrochenen Beziehung zum Vater ihrer Zwillinge bekam sie zunächst Medikamente verschrieben, die sie abhängig machten. Irgendwann wechselte Shannon zu Heroin, inzwischen nimmt sie auch Tranq. Alles, was sie in die Finger bekommt.

Gegen Shannon liege ein Haftbefehl vor, sagt jemand, das könne sie doch von der Straße wegholen? Ach, die Polizei lasse sie ohnehin wieder laufen, winkt Sandra Sell ab: "Sie ist eine Drogenabhängige auf der Kensington Avenue!" Nur Gott könne Shannon noch helfen.

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