Ein fast unglaublicher Fehler von Titelverteidiger Ding Liren entscheidet die Schach-WM. Ein 18 Jahre alter Inder krönt seine Blitzkarriere.
Ein ungläubiges Lächeln huschte über das Gesicht von Dommaraju Gukesh, dann übermannten den jüngsten Schach-Weltmeister der Geschichte die Tränen. Mit 18 Jahren eroberte der Inder im letzten Spiel des WM-Duells mit Ding Liren in Singapur die Krone seines Sports, weil dem chinesischen Titelverteidiger kurz vor Schluss ein riesiger Fehler unterlief.
Gukesh ist der zweite indische Weltmeister nach Viswanathan Anand, der von 2007 bis 2013 den Titel hielt. "Seit ich mit Schach angefangen habe, habe ich von so einem Moment geträumt", sagte Gukesh, als er seine Emotionen wieder im Griff hatte. Indiens Ministerpräsident Narendra Modri gratulierte prompt: "Das ist das Resultat seines unvergleichlichen Talents, harter Arbeit und unerschütterlicher Entschlossenheit."
Das Supertalent war trotz seines jungen Alters als Favorit in das WM-Duell gegangen. Ding hatte vor dem Match in Singapur immer wieder Schwächen gezeigt, war in der Weltrangliste weit abgerutscht und hatte psychische Probleme offenbart. Doch der Titelkampf wurde über 14 Partien zu einer emotionalen Achterbahn für beide Spieler und ihre Fans.
Ding verliert die Konzentration
Je zwei Siege gelangen Ding und Gukesh vor dem erstaunlichen Schlussakt, neunmal trennten sich beide remis. Als alles schon nach einem weiteren Unentschieden und einer Entscheidung im Tiebreak mit Schnell- oder Blitzschach aussah, verlor Ding für einen kurzen Moment die Konzentration.
"Erst als ich am Brett sah, wie er sich freute, habe ich gemerkt, dass ich Mist gebaut habe", sagte der 32-Jährige nach dem für ihn verhängnisvollen 55. Zug. Liren wollte das Remis erzwingen, setzte dabei aber seinen Turm auf ein Feld, wodurch Gukesh ermöglicht wurde, Türme und Läufer vom Brett zu nehmen - so gab es für Liren kein Entkommen mehr. "Als ich das erkannt habe, war das vielleicht der beste Moment meines Lebens", verriet Gukesh.
Wenige Minuten später gab der Chinese in aussichtsloser Stellung auf, schüttelte Gukesh die Hand und besiegelte so den 7,5:6,5-Sieg des Inders. Der 18-Jährige erhält damit den Großteil des Preisgeldes in Höhe von 2,5 Millionen Dollar (rund 2,37 Millionen Euro). "Jeder Schachspieler möchte so etwas erleben, nicht viele haben die Chance dazu. Und jetzt einer davon zu sein - ich lebe meinen Traum", sagte Gukesh.
Zweitjüngster Großmeister der Historie
Der Erfolg krönte seine Blitzkarriere. Mit knapp sieben Jahren hatte Gukesh mit dem Schachspielen begonnen, schon mit zwölf stieg er zum zweitjüngsten Großmeister der Schach-Historie auf. Seine Eltern hatten ihn schon früh von der Schule genommen, um ihm mehr Zeit für Schach zu geben.
Der frühere Champion Anand ist sein Idol und war zugleich sein Lehrmeister. "Vishy" war einst durch den Gewinn des WM-Titels 2007 zu einer Art Volksheld geworden und startete in seiner Heimat eine Begeisterung für den Schachsport, die bis heute anhält. Immer mehr jüngere Spieler aus Indien dringen in immer kürzeren Zeitabständen in die Weltspitze vor. In den Top Ten des Weltverbands Fide stehen derzeit gleich drei indische Spieler.
Millionen von Fans verfolgten im bevölkerungsreichsten Land der Welt die Partien in Singapur, die indischen Medien berichteten breit über das Duell mit Ding Liren. "Was für eine unglaubliche Leistung", jubelte die Zeitung "The Times of India" nach dem Triumph von Gukesh. Es sei ein "stolzer Moment für das Schach, ein stolzer Moment für Indien", schrieb Anand auf der Plattform X.
Der größte Star hat keine Lust
Für das Titelduell in Singapur hatte sich Gukesh mit seinem Sieg beim Kandidatenturnier im April qualifiziert, als er sich gegen namhafte Gegner wie Vizeweltmeister Jan Nepomnjaschtschi durchsetzte. Der Russe hatte im vergangenen Jahr in einem engen Duell gegen Ding verloren.
Schon damals wiesen Kritiker darauf hin, dass der wohl größte Schach-Star gar nicht um die Weltmeisterschaft mitspielte. Der mehrfache Champion Magnus Carlsen (34) hatte den Titel 2023 nach zehn Jahren niedergelegt, weil der Norweger keine Lust mehr auf den langatmigen und kräfteraubenden Titelkampf hatte. Die Frage ist nun, ob Gukesh eine ähnliche Ära wie einst Carlsen begründen kann.