Am Montag wird im ungarischen Sopron an das Paneuropäische Picknick erinnert, das vor 35 Jahren Hunderte DDR-Bürger zur Flucht nutzten. Präsident Steinmeier kommt in Begleitung von Zeitzeugen wie Walter Sobel, der ntv.de zusammen mit seiner Frau von der wichtigsten Reise ihres Lebens berichtet.
Am Montag reist der Bundespräsident nach Ungarn. In Sopron, dem Ort des paneuropäischen Picknicks, will Frank-Walther Steinmeier die Rolle der Ungarn bei der Flucht Hunderter Ostdeutscher nach Österreich würdigen. Für Steinmeier ist dieser Tag, der 19. August 1989, "ein kleiner, aber bedeutender Schnipsel in der Weltgeschichte". Der Bundespräsident trifft in Sopron drei Zeitzeugen, die die DDR über Ungarn verlassen haben.
Damals, im Sommer 1989, hätte das alles auch ganz anders ausgehen können. Oder etwa nicht? Aus der Distanz von 35 Jahren kann man wohl sagen, nein, die Vorgänge in der damaligen DDR, die letztendlich zur friedlichen Revolution und zum Fall der Berliner Mauer geführt hatten, waren zu diesem Zeitpunkt nicht mehr aufzuhalten. Aber damals, im Sommer 1989, konnte sich dessen niemand sicher sein. Die, die "raus" wollten, brauchten Mut, manchmal auch Wagemut, und ganz viel Glück. Am Ende haben Tausende Ostdeutsche ihre Heimat verlassen, um im Westen ein neues Leben zu beginnen. Nicht alle von ihnen haben das Glück, das sie gesucht haben, auch gefunden. Manche mussten lernen, dass auch im Westen nicht alles Gold ist, was glänzt. Und einige sind später sogar in die alte Heimat zurückgekehrt.
Als der Eiserne Vorhang durchlässig wurde
Aber in jenem Sommer und Herbst 1989 war die Geschichte nicht aufzuhalten. Die "Wende" in der DDR geschah nicht über Nacht. Das war ein Prozess über mehrere Monate mit einigen Ereignissen, die sich tief in das Gedächtnis der Ostdeutschen eingegraben haben. Das sogenannte paneuropäische Picknick in Ungarn an der Grenze zu Österreich, der Besuch des damaligen westdeutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher in der Prager Botschaft und eben der Fall der Berliner Mauer.
Das paneuropäische Picknick am 19. August 1989 wurde für Hunderte DDR-Flüchtlinge zum Weg in die Freiheit. Urlaub in Ungarn, im "sozialistischen Ausland", das war für Ostdeutsche auch damals schon möglich. Der Staat hatte nicht viele Möglichkeiten, das zu verhindern. Auch dann nicht, als immer mehr, die zum Camping an den Balaton gefahren waren, nicht mehr zurückkamen.
Zu denjenigen, die damals die DDR über Ungarn verlassen wollten, gehören Walter und Simone Sobel aus Blankenburg im Harz. Walters Familie lebte zum Teil im Westen, für den damals 26-Jährigen stand schon früh fest, dass er wegwollte. Schon als Kind hatte er sich in der DDR nicht wohl gefühlt: "Schon in der 1. Klasse habe ich gemerkt, das ist nichts. Und als ich dann klar denken konnte und gesehen habe, dass ein Drittel der Menschen die Wirtschaft aufrechterhält und zwei Drittel der Wasserköpfe nur dasitzt und nichts tut, da war mir klar, hier läuft irgendwas nicht rund."
"Ich habe meine gesamte Familie zurückgelassen"
Im Gespräch mit ntv.de erzählt Walter Sobel von einem prägenden Erlebnis in seiner Jugend: "Wir wurden in der Schule gefragt, was wir später mal werden wollen, da war ich vielleicht in der sechsten oder siebten Klasse. Ich habe gesagt, ich möchte Ersatzspieler bei Bayern München werden." Die Reaktion seiner Lehrer kann man sich auch heute noch lebhaft vorstellen. Für Walter war klar: er will weg.
Für seine Frau Simone war das nicht so einfach: "Mein Mann und ich kommen aus verschiedenen Familiensystemen. Mein Mann war katholisch und politisch überhaupt nicht aktiv und ich komme aus einer Parteifamilie, da waren alle Funktionäre und sehr aktiv. Wir haben die Flucht lange geplant, aber eigentlich habe ich schon gedacht, vielleicht ist das ja nur eine Spinnerei. Und ich hatte ja drüben alles in meiner kleinen Welt. Die Sicherheit mit den kleinen Kindern, ein schönes Fachwerkhaus im Harz. Ich bin dann aus Liebe mit ihm gegangen, aber ich habe meine gesamte Familie zurückgelassen. Die wussten von den Plänen nichts. Wir konnten ihnen nichts sagen, sonst hätten sie uns verpfiffen."
Im August 1989 macht sich die Familie auf den Weg nach Ungarn. Die beiden tragen nicht nur die Verantwortung für sich, sondern auch für die kleinen Töchter. Indra, die Ältere, ist vier und Sabrina, das Nesthäkchen, gerade mal zwei. Wenn sie an diese Tage vor 35 Jahre zurückdenkt, kriegt Simone Sobel heute noch Gänsehaut. "Was haben wir als junge Menschen für einen Mut gezeigt, diesen Weg zu gehen, es war ja wirklich gefährlich. Aber ich glaube, es ist gut, wenn man als junger Mensch diesen Mut hat, wenn man an eine Sache ganz fest glaubt. Mein Mann hat sowieso ganz fest daran geglaubt, ich bin aus Liebe mitgegangen, ich habe ihm geglaubt, dass wir das gemeinsam schaffen."
Wiedersehen mit dem Mann, der nicht schoss
Bei unserem Telefonat sind die beiden gerade in Wien. Mit dem Camper auf den Weg nach Sopron. Walter Sobel wäre auch ohne die Einladung des Bundespräsidenten, der am Montag nach Ungarn reist, um an diesen schicksalhaften Tag vor 35 Jahren zu erinnern, nach Sopron gereist. "Ich wäre definitiv gefahren. Meine Frau eher nicht, weil sie immer noch sehr emotional ist. Aber für mich war klar: ich möchte dort sein. Vor allem um Árpád Bella zu sehen. Er war der Grenzer, der damals nicht von der Schusswaffe Gebrauch gemacht hat. Einen Tag später ist ein Familienvater, der mit seiner Frau und seinen zwei Kindern flüchten wollte, erschossen worden. Das sind so Sachen, die gehen einem immer noch unter die Haut. Und Árpád Bella war der, der es ermöglicht hat, dass wir die Grenze passieren konnten. Wir haben auf unserer Reise in den letzten 35 Jahren so viele Menschen kennengelernt. Das sind Helden, die möchte ich wiedersehen."
Das Ehepaar Sobel war seit jenen schicksalhaften Tagen im August 1989 oft in Wien. Simone, die in der DDR Physiotherapeutin war, hat nach ihrer Flucht sofort ihre Ausbildung fortgesetzt. Unter anderem in Österreich. "Meine Frau hat in Wien viele Lehrgänge besucht, ich habe sie begleitet und bin tagsüber immer wieder nach Sopron gefahren und habe mich da hingesetzt und innegehalten und immer wieder daran gedacht, was wir damals für einen Mut hatten und diese Flucht gewagt haben." Bei jedem Satz, den Walter Sobel sagt, spürt man, wie verbunden er mit diesem Ort ist.
Nicht alle Narben verheilen
Sopron, an der Grenze zum Burgenland. Seine Frau auch, aber für sie ist eben immer noch nicht so einfach. Ihr Vater, in der DDR ein systemtreuer Funktionär, lebt nicht mehr. Immerhin hat sie sich mit ihrer Mutter ausgesöhnt, heute ist das Verhältnis wieder eng: "Aber es ist ein Auf und Ab, weil sie anders denkt. Sie hat ihre Geschichte, wir haben eine andere. Ich bin froh, dass ich mit meiner Mama wieder enger zusammengerückt bin, aber ich muss eingestehen, dass ich sie nicht überzeugen kann."
Mutter und Tochter leben ein stilles Agreement. "Ich lasse sie in ihrer Meinung und so können wir die nächsten Jahrzehnte angenehm verbringen, in Frieden, so dass wir beide ein gutes Gefühl haben." Das Verhältnis zu ihrem Bruder hat sich nicht wieder kitten lassen. Er war mitten im Jura-Studium als seine Schwester und sein Schwager die DDR verlassen haben. Die Republikflucht hat er ihr bis heute nicht verziehen und keinen Kontakt zur Schwester.
Ohne Zweifel hat Simone Sobel einen höheren Preis für die Freiheit gezahlt als ihr Mann. Trotzdem ist sie mit sich und dieser Entscheidung im Reinen: "Wenn man ganz sicher ist, mit einer Ideologie, mit diesem System nichts mehr zu tun haben will, wenn man sich frei entfalten will und das hätten wir beide damals nicht realisieren können, dann muss man diesen Weg gehen. Ich bin heute sehr dankbar, denn ich persönlich konnte mich beruflich entfalten. Ich bin sehr glücklich darüber, was ich machen kann, das wäre drüben nicht möglich gewesen."
"Ich bereue überhaupt nichts"
Der Kontakt zur Familie ist nach wie vor nicht ungetrübt, aber die Heimat im Harz besuchen die beiden noch immer: "Der Ursprung der Familie, die Freunde, die ehemaligen Mitschüler, das ist tatsächlich alles geblieben. Ich habe noch meine ersten Freunde, meine Tante, die wir regelmäßig besuchen." Auch Walter Sobel hat seinen Frieden mit der alten Heimat gemacht: "Ich bin eigentlich regelmäßig im Harz und ist es so schön. Ich werde immer noch als alter Ossi begrüßt, das ist richtig schön. Na klar höre ich immer wieder, Mensch, vor 35 Jahren bist Du abgehauen. Das ist immer wieder Thema, aber ich bin gern dort." Seine Frau ergänzt: "Die kommen so herzlich und so bollerig raus, aber ehrlich. Ich sage immer, die Heimat ist die Heimat, die ist gespeichert, tief drin."
Bereuen sie irgendetwas? "Nein", sagt Simone Sobel ohne zu zögern, "Ich bereue überhaupt nichts. Das war unser Weg und der hat uns dorthin geführt, wo wir jetzt sind. Nach Kamen in Nordrhein-Westfalen. Wir konnten uns dort entfalten, unsere Kinder sind dort groß geworden und wir alle sind sehr, sehr zufrieden. Natürlich ist der Harz nicht da, aber man kann jederzeit hinfahren, wohin man möchte, man hat ja jetzt die Freiheit."