Deutsche Unternehmen in Ungarn ächzen unter Schikanen durch den Staat. Die Regierung von Ministerpräsident Orban will sie so zum Verkauf an Vertraute zwingen. Eine Studie beleuchtet erstmals systematisch, wie die Firmen drangsaliert werden.
Dubiose Übernahmeangebote, willkürliche Sonderabgaben, überraschende Kontrollen - um deutsche Unternehmen in Ungarn zu gängeln, wendet die Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orban geradezu mafiöse Methoden an, wie Recherchen von ntv.de ergaben. Jetzt stellt eine Studie erstmals systematisch dar, wie deutsche Firmen aus dem ungarischen Markt gemobbt und dazu gebracht werden sollen, an regierungsnahe Geschäftsleute zu verkaufen.
Für seine Studie "Aushalten, anpassen oder aktiv werden? Deutsche Unternehmen in Ungarn" hat York Albrecht vom Institut für Europäische Politik Interviews mit sechs betroffenen Verbänden und Unternehmen ausgewertet. Albrecht kommt zum Ergebnis, dass Orbans Regierungspartei Fidesz die Firmen vor allem durch drei Praktiken unter Druck setzt: Durch Ministerialdekrete können Gesetze ohne Einmischung der Justiz geändert werden, Sondersteuern und -regularien treiben die ausländischen Firmen in die Verlustzone; und bei Ausschreibungen wird zugunsten bevorzugter Unternehmer getrickst.
Firmen müssten sich darüber bewusst sein, dass Orbans Regierung freie Hand habe, wenn sie Firmen drangsalieren wolle, sagt Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europaparlaments, ntv.de. Die EU müsse gegen solche Verletzungen des freien Binnenmarkts mit allen Mitteln vorgehen, die ihr zur Verfügung stehen. "Dazu gehören Vertragsverletzungsverfahren, aber auch der Entzug von Geldern", so die SPD-Politikerin.
Um die "regierungsgeförderte Vetternwirtschaft" aufblühen zu lassen, habe Budapest "Mittel und Wege gefunden, sehr klarzumachen, wer gewünscht ist und wer das Land verlassen soll", sagt Studien-Autor Albrecht im Gespräch mit ntv.de. Dies könne auf die ungarische Regierung zurückfallen, da das Misstrauen ausländischer Unternehmen wachse und sie davor zurückschrecken könnten, in Ungarn zu investieren. Vor allem aber schade das Gebaren der ungarischen Regierung dem EU-Binnenmarkt und damit auch der deutschen Wirtschaft. "Das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedsstaaten und den Unternehmen ist unerlässlich für einen funktionierenden Binnenmarkt. Dieser wiederum ist unerlässlich für das Funktionieren der deutschen Wirtschaft", so Albrecht.
EU-Kommission startet Verfahren wegen der Sondersteuern
Da die EU-Kommission gemeinsam mit nationalen Behörden für die Durchsetzung von Wettbewerbsrecht im Binnenmarkt zuständig ist, rät Albrecht ihr in seiner Studie dazu, härter und konsequenter gegen Ungarns Verstöße vorzugehen. Diese Forderung stellen die betroffenen Unternehmen sowie mehrere Fraktionen des EU-Parlaments bereits seit Jahren, die Kommission allerdings reagierte jedoch nur mit vereinzelten Maßnahmen. So leitete sie Anfang 2023 etwa ein Verfahren gegen die ungarische Sondersteuer auf Vorprodukte im Bausektor ein.
Seit einigen Wochen scheint EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dem Problem jedoch eine höhere Priorität einzuräumen. Anfang Oktober erwähnte von der Leyen erstmals gegenüber Orban im Europaparlament die Diskriminierung ausländischer Unternehmen in Ungarn. Kurz zuvor hatte die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren wegen der Sondersteuern für ausländische Supermärkte eröffnet. Zudem soll im Rechtsstaatlichkeitsbericht der Kommission künftig auch die wirtschaftliche Dimension der Rechtsstaatlichkeit erfasst werden, was bislang nicht der Fall ist.
All das wertet der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft als Zeichen, dass sich die EU-Kommission des Themas angenommen hat. Die vor Kurzem eingeleiteten Maßnahmen dienen dem Schutz des Binnenmarktes, heißt es aus dem Ost-Ausschuss gegenüber ntv.de. Allerdings rechnet der Verband nicht damit, dass sich die Lage in den strategischen Branchen schnell entspannen wird. Neue Fragezeichen werfe die Ankündigung der ungarischen Regierung auf, ihre Bürgerinnen und Bürger in einer sogenannten Nationalen Konsultation zum Umgang mit ausländischen Unternehmen sowie zur EU-Wirtschaftspolitik zu befragen. Eine der elf, teils suggestiven Fragen dreht sich darum, ob multinationale Unternehmen, die ihre Marktmacht missbrauchen, bestraft werden sollten.
Deutscher Flughafen-Investor zu Verkauf gezwungen
Erst im Juni dieses Jahres erwarb Orbans Regierung 80 Prozent der Anteile am Budapester Ferenc-Liszt-Flughafen vom deutschen Flughafen-Investor AviAlliance. Zuvor wurde mehrere Jahre verhandelt. AviAlliance wurde laut Medienberichten derart drangsaliert, dass das Unternehmen sich schließlich dazu gezwungen sah, seine Anteile für drei Milliarden Euro zu veräußern. Budapest bezeichnete den Kauf als eine "Frage der nationalen Souveränität".
Für ihre Nationalisierungsstrategie wählt sich die Regierung laut Albrechts Studie nur Branchen ohne Exporteinnahmen aus, darunter die Bau-, Energie- oder Finanzbranche sowie der Dienstleistungssektor. Orbans rechtliche Handhabe, um die Firmen zu gängeln, kennt kaum Grenzen. Seit Frühjahr 2020 regiert er per Dekret durch. Möglich macht das der Notstand, den er zunächst aufgrund der Corona-Pandemie, dann aufgrund des Ukraine-Kriegs verordnete.
Nicht alle deutschen Konzerne in Ungarn müssen fürchten, aus dem Markt gemobbt zu werden. Deutsche Autohersteller profitieren weiterhin von optimalen Arbeitsbedingungen. Orban will diese Unternehmen im Land halten. Sie schaffen nicht nur gut bezahlte Arbeitsplätze, sondern verhelfen Ungarn auch dazu, in der Wertschöpfungskette aufzusteigen, etwa durch den Transfer von technischem Know-how. Ein Großteil der in Ungarn aktiven deutschen Unternehmen ist laut Albrechts Studie wirtschaftlich hochzufrieden. Demnach ist Deutschland der wichtigste Handelspartner Ungarns, sowohl was Im- als auch Exporte betrifft. Das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern lag allein im vergangenen Jahr bei 70 Milliarden Euro.
Wer allerdings das Pech hat, in einer Branche zu arbeiten, die im Visier der ungarischen Nationalisierungsstrategie ist, muss mit Repressalien rechnen. Für Albrecht sind drei "illiberale Wirtschaftspraktiken" entscheidend:
1. Eingriffe ins Wettbewerbsrecht
Ministerialdekrete unterliegen nicht der juristischen Kontrolle. Sie werden dazu genutzt, das "staatliche Budget, Steuern, Abgaben, Beiträge und Zölle" festzulegen, um massiv in den Wettbewerb einzugreifen. Unternehmen werden dadurch gezwungen, an regierungsnahe Geschäftsleute oder den ungarischen Staat zu verkaufen. Allein der Wert staatlicher Besitzungen in Ungarn "stieg von 2010 bis 2020 um 52 Prozent."
2. De facto-Diskriminierung ausländischer Unternehmen
Der ungarische Staat verhängt Sonderabgaben und -regulierungen, die sich geschäftsschädigend auf die ausländischen Firmen auswirken. Im Einzelhandel etwa sind die Sondersteuern so kalkuliert, dass sie der Gewinnmarge entsprechen oder diese übersteigen. Die Unternehmen schreiben unweigerlich Verluste. Hinzu kommen etwa baurechtliche Benachteiligungen, Pflichtrabatte und überraschende Kontrollen von Filialen.
3. Öffentliche Auftragsvergabe
Unternehmen, die Orbans Partei Fidesz nahestehen, werden bei öffentlichen Ausschreibungen bevorzugt. Eine Analyse der Daten aus dem elektronischen Vergaberegister ergibt, "dass zwischen 2014 und 2023 knapp zwei Drittel der Verfahren, an denen deutsche Firmen teilnahmen, mit einem einzigen Angebot abgeschlossen wurden." Verfahren mit nur einem Bieter sind in vielen Fällen ein Hinweis auf mögliche Absprachen und Korruption.
Einige ausländische Unternehmen sprechen sich inzwischen gegen die Praktiken der ungarischen Regierung aus, zum Beispiel die österreichische Handelskette Spar. Viele scheuen jedoch die Öffentlichkeit und wollen, wenn überhaupt, dann nur anonym über die Probleme reden. "Für betroffene Unternehmen in Ungarn ist es leider sehr schwierig, ihre Lage öffentlich zu machen. Die Furcht vor Repressionen ist zu groß", sagt Barley.