3 months ago

Olympia 2024: IBA gegen Imane Khelif: Der Boxverband des Bösen



Die algerische Boxerin Imane Khelif wurde bei Olympia zum Objekt des Aufruhrs. Sie sei keine Frau, hetzten im Internet Tausende. Zur Klärung hält der Boxverband IBA eine Pressekonferenz ab, die sich als Farce entpuppt.

Es ist der bisher größte Olympia-Aufreger: die Aufgabe im Boxring von Angela Carini gegen Imane Khelif im Achtelfinale des Frauenboxens bei Olympia. "Ich wurde noch nie so hart geschlagen", sagte Carini unter Tränen, kurz nachdem sie den Kampf gegen Khelif nach nur 46 Sekunden und zwei Kopftreffern abgebrochen hatte.

Was die Aussage der Italienerin implizierte: Im Ring habe sie nicht mit einer Frau gestanden, Khelif sei ein biologischer Mann, der härter zuschlug als je eine ihrer Gegnerinnen. Die Algerierin habe unfair gewonnen, so der indirekte Vorwurf, der in den sozialen Medien sofort aufgegriffen wurde.

Tagelang setzten Tausende Nutzer Hasskommentare gegen Khelif ab. Zuerst hieß es, sie sei eine als geschlechtlicher Mann geborene Transfrau. Als sich dies als falsch herausstellte, vermutete man, Khelif habe die männlichen Geschlechtschromosomen XY, sei demnach intersexuell.

Boxerin Khelif über Geschlechter-Debatte: «Kann zerstören» 10:14

Plötzlich gab es Täter und Opfer

Worin man sich aber einig war: Khelif habe unfair gewonnen, und Carini sei ein Opfer. Belege für die Vermutungen über Khelifs Geschlecht hatten sie keine. Das International Olympic Committee (IOC) schaltete sich ein, Carini entschuldigte sich für die Aussagen in ihrem Träneninterview, Khelif warnte davor, was ein derartiger Hass anrichten könne.

Gespannt wartete die Sportwelt deshalb auf eine für Montagnachmittag angekündigte Pressekonferenz, auf der die International Boxing Association (IBA) Licht in den Fall bringen wollte. Der umstrittene Verband hatte Khelif und die taiwanische Boxerin Lin Yu Ting nach nicht näher bezeichneten Geschlechtertests von der Box-Weltmeisterschaft 2023 ausgeschlossen. Und die Veranstaltung sollte es in sich haben.

Olympia Geschlechterdebatte 14.53

Imane Khelif war für die WM 2022 "nicht zugelassen"

Es geht schon mal damit los, dass die Fragerunde wegen technischer Probleme mit einer Stunde Verspätung beginnt. Anwesende IBA-Vertreter sind CEO Chris Roberts, Arzt Dr. Ioannis Filippatos und Generalsekretär Gabriele Martelli. IBA-Präsident Umar Kremlew ist aus Russland zugeschaltet.

In einem einleitenden Statement sagt Roberts, heute werde man Einzelheiten darüber erfahren, warum die IBA Khelif und Yu Ting von der letztjährigen Weltmeisterschaft disqualifiziert habe. Die Chronologie der Tests von Khelif und Yu Ting sei wie folgt: Bei den Weltmeisterschaften 2022 in Istanbul habe es Bedenken von Boxern und Trainern bezüglich des Geschlechts der beiden Sportlerinnen gegeben. Daraufhin sei ein Bluttest durchgeführt worden. Die Ergebnisse seien aber uneindeutig, und so sei ein zweiter Test von Nöten gewesen, so Roberts.

Am 17. März 2023 sei ein zweiter Bluttest bei beiden Boxerinnen durchgeführt worden. Diese Tests hätten ergeben, dass beide nicht für Frauenwettbewerbe zugelassen werden dürften. Khelif und Yu Ting wurden daraufhin am 26. März 2023 von den Weltmeisterschaften ausgeschlossen.

Imane Khelif_Boxerin 16:47

IBA-Präsident Umar Kremlev schießt gegen IOC

Dann wird das Gesicht von IBA-Präsident Umar Kremlev per Video-Liveschaltung hinter die drei Funktionäre projiziert. Er spricht davon, dass das Frauenboxen "getötet" und die Integrität des Frauensports "zerstört" werde. Der Grund seien das IOC und dessen Entscheidung, Sportlerinnen wie Khelif und Yu Ting mit unklarer Geschlechteridentität antreten zu lassen. Die IBA, so argumentiert er, sei das einzige Gremium, das in der Lage sei, sich für die Athletinnen einzusetzen.

Über 20 Minuten hält Kremlev einen mitunter wütenden Monolog, der nicht wie ein überlegter Vortrag wirkt, sondern vielmehr wie eine unzusammenhängende Tirade – mit häufigen und bissigen Angriffen auf Thomas Bach, den Präsidenten des IOC, in dem Kremlev wohl seinen ganz persönlichen Gegner sieht. Bach hatte sich jüngst vermehrt kritisch zur IBA geäußert.

Der Erkenntnisgewinn der bizarren Veranstaltung ist zu diesem Zeitpunkt gleich null. Die genannten (und dürftigen) Einzelheiten waren bereits öffentlich. Als dann Facharzt Dr. Ioannis Filippatos zum Mirko greift, hoffen die Anwesenden auf Klarheit, werden aber nur noch mehr verwirrt.

Anwesender Arzt fühlt sich deplatziert

Filippatos Rolle auf der Veranstaltung scheint klar: Er soll der IBA-Position wissenschaftliche Legitimität verleihen. Durch sein Auftreten und seine zum Teil wirren Aussagen erreicht er jedoch das Gegenteil. Er sagt, er sei seit 30 Jahren Arzt und "etwa 59 Jahre alt" und ziehe es vor, als Arzt zu praktizieren, anstatt Pressekonferenzen zu geben. Er ist auch der europäische Präsident der IBA, betont aber, er spreche hier als Arzt. Er ist Experte insbesondere für In-vitro-Fertilisation, eine Variante der künstlichen Befruchtung, die im Reagenzglas durchgeführt wird. Warum seine Expertise für den Fall wichtig sein soll, erschließt sich nicht.

Die Veranstaltung wirkt inzwischen komplett unwirklich. Filippatos kommt vom Hundertsten ins Tausendste, dreht sich im Kreis, kommt nicht zum Punkt. "Sie müssen die Wahrheit wissen", sagt er. Und fügt hinzu, dass er die Ansicht von Thomas Bach respektiere, aber nicht dessen Ansicht, dass die Wissenschaft hinter den Verboten von Khelif und Lin schlecht sei. "Für mich ist die Wissenschaft nicht schlecht."

Filippatos erklärt, dass von der IBA verlangt werde, festzustellen, ob es sich bei bestimmten Boxern um Männer oder Frauen handele, und man deshalb mit den Tests der Boxer begonnen hätten. Dann wird es komplett gaga: "Ich habe 5000 Operationen durchgeführt, und ich weiß nicht, wie viele Babys entbunden. Es ist nicht möglich zu sagen, dass Sie nicht wissen, was eine Frau ist. Lassen Sie die Ärzte sprechen!"

Heiße Luft und Knalleffekte

Mit jeder weiteren Minute wird deutlicher: An einer echten Aufklärung ist die IBA nicht interessiert. Kritische Fragen, wie etwa zur Finanzierung durch den russischen Staatskonzern Gazprom, werden weggewischt, die Funktionäre sehen sich in die Opferrolle, Präsident Kremlevs sich wiederholende wütende Monologe wirken fast komisch.

Die Stimmung im Saal scheint sich immer weiter aufzuheizen, die anwesenden Journalisten fühlen sich in ihren Fragen übergangen, ab und an knallt es laut, als eine Lautsprecherbox explodiert. Die aufklärende Pressekonferenz ist so chaotisch wie die Debatte über Imane Khelif.

Eine endgültige Klärung wäre wünschenswert – für den Menschen und die Sportart.

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