3 months ago

OB von Jena im Interview: "Es gibt so etwas wie kollektive Gereiztheit"



In keinem anderen Bundesland ist die AfD so stark wie in Thüringen - dort, wo Björn Höcke die Partei führt. Es gibt allerdings eine Stadt, in der die Parolen der Rechtspopulisten kaum vergangen: Jena. Im Interview mit ntv.de erklärt Oberbürgermeister Nitzsche, was anders ist in der Stadt und was eben nicht in der Auseinandersetzung mit der AfD hilft.

ntv.de: Herr Nitzsche, wenn Sie auf die Landtagswahl am 1. September blicken - welches Gefühl überwiegt? Angst oder Hoffnung?

Thomas Nitzsche: Eher Unsicherheit. Hoffnung auch. Ich glaube, es wird auch nach dieser Wahl keine einfachen Mehrheitsverhältnisse im Thüringer Landtag geben. Ich hoffe trotzdem, dass wir nicht wieder eine Minderheitsregierung bekommen. Das ist auf Dauer nicht gut.

Wie nehmen Sie die Stimmung im Land wahr?

In Jena ist die immer ein bisschen anders. Wir haben hier andere Mehrheitsverhältnisse als im Rest Thüringens. Aber es gibt wie überall so etwas wie kollektive Gereiztheit. Das fing mit Corona an und ging mit dem Ukraine-Krieg weiter. Irgendwie ist die Lunte kürzer geworden. Der Wille, sich auf das Argument des Gegenübers einzulassen, schwindet. Die Bereitschaft, andere Meinungen erst einmal zu hören und gelten zu lassen, auch wenn man sich von diesen abgrenzt, die hat nachgelassen.

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Ich glaube, das ist die Überlagerung von multiplen Krisen. Corona allein hat gereicht, um die Welt durcheinanderzuschütteln. Die Pandemie war noch nicht ganz vorbei, da ging es schon mit dem Ukraine-Krieg weiter. Viele haben Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Normalität. Was auch immer man darunter versteht. Das fehlt aber und dadurch haben wir diese Aufgeregtheit. Sorgen um die Zukunft kommen hinzu. Nun setzt sich eine Partei aus dem rechten bis rechtsextremen Spektrum dauerhaft fest. Man beschreibt die AfD gern als ostdeutsches Phänomen, aber das ist, glaube ich, auch nur zeitversetzt. Die Tendenz ist in den alten Bundesländern ähnlich.

Für wie gefährlich halten Sie Björn Höcke?

Sehr gefährlich. Nach allem, was ich lese und höre, führt er ein sehr straffes Regiment. Auf den Listen für Kreistage oder den Landtag kommen Leute nur auf aussichtsreiche Positionen, wenn sie mit ihm auf Linie sind. Es kann niemandem daran gelegen sein, Herrn Höcke auch nur in die Nähe der Macht kommen zu lassen.

Ein realistisches Szenario, Ministerpräsident zu werden, gibt es aber nicht für Höcke. Alle Parteien schließen eine Koalition mit der AfD aus. Oder?

Ich sehe es auch nicht. Das gilt aber nur, wenn niemand umfällt. Wenn auch nach der Wahl das gilt, was jetzt gesagt wird. Denkbar ist aber, dass einzelne Parteien den Wiedereinzug in den Landtag nicht schaffen. Dann würden deren Stimmen entfallen und es würden womöglich deutlich weniger als 50 Prozent der Stimmen für eine Mehrheit gebraucht. Dass die AfD so stark wird, dass man an ihr nicht vorbeikommt, sehe ich nicht. Aber ganz ausgeschlossen ist es nicht.

Da zeigt sich das Dilemma in der Auseinandersetzung mit der AfD. Man will eine Regierungsübernahme verhindern. Aber wenn sich alle anderen gegen sie zusammenschließen, können sie wieder sagen: Seht her, wir sind die einzige Alternative, die anderen sind alle gleich. Sehen Sie einen Ausweg?

Es gibt einen Ausweg, aber keine schnelle Lösung. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass alles, was wir unter der Überschrift "Kampf gegen die AfD" erleben, nicht das bringt, was man sich davon erhofft. Es zielt an die falsche Stelle. Der Kampf gegen die Partei erreicht mitunter sogar das Gegenteil von dem, was man mit den besten Motiven erreichen will. Stattdessen braucht es einen Kampf gegen die Ursachen, die Wähler dazu bewegen, ihr Kreuz bei dieser Partei zu machen. Es ist vergleichsweise leicht, eine große Demo gegen die AfD zu organisieren. Aber das hilft nicht. Vielleicht schlägt man für den Moment der Hydra einen Kopf ab, aber das ist nicht der Weg, sie zu besiegen.

Wo würden Sie ansetzen?

Das Thema, das die AfD gefunden hat, ist Angst. Wovor auch immer.

Ich hätte jetzt gedacht, das Thema ist Migration.

Das ist eine Ausprägung. Angst vor dem Fremden. Das kann man schlecht finden, aber es gibt diese Angst, sie ist real. Es gibt aber auch die Angst vor dem sozialen Abstieg. Davor, etwas zu verlieren, das man hat. Oder Angst vor zu viel Veränderung. All diese Motive bespielt die AfD leider sehr effektiv.

Aber was kann man tun?

Man muss die Gründe für die Angst reduzieren. Das ist das einzige Rezept, das hilft. Angst kann man niemandem ausreden. Sondern man muss den Menschen kommende Veränderungen so erklären, dass sie sich dadurch nicht bedroht fühlen. Hier in Jena hat es die AfD sehr viel schwerer als im Rest Thüringens. Das liegt einerseits an unserer wachen Stadtgesellschaft. Andererseits haben wir schon einen höheren Ausländeranteil. Es ist normal geworden, Ausländer gehören zum Stadtbild. Wenn ich mich daran gewöhnt habe, mit anders aussehenden Menschen zusammenzuleben, dann wird das weniger zum Problem aufgeladen, dann lässt sich das nicht mehr so leicht populistisch ausbeuten.

Ein großes Thema des Wahlkampfes sind die Geflüchteten. Sind Sie da in Jena vielleicht doch eine Insel in Thüringen?

Wir haben 2014/15 knapp 3000 Flüchtlinge aufgenommen. Hinter den Kulissen war das eine große Herausforderung, aber es gab keine große Kritik. Der Zustrom ist damals, wenn man so will, einfach in den Wohnungsmarkt hineingesickert. Aktuell ist das anders. Jetzt gibt es keine freien Wohnungen mehr. Die Bereitschaft zur Aufnahme ist noch immer gegeben, aber es schwinden die Möglichkeiten der Unterbringung. Unsere Gemeinschaftsunterkünfte sind immer noch voll. Wenn jetzt über Nacht drei Busse kämen, wüssten wir auch in Jena nicht, wohin mit den Menschen. Im Moment ist das Ankunftsgeschehen nahe Null. Aber das kann sich auch wieder ändern.

Wie weit schaffen Sie es, die Geflüchteten in Arbeit zu bringen? War es ein Fehler, den Ukrainern gleich Bürgergeld zu zahlen?

Hier in Jena gehen die Migranten überproportional in Beschäftigungsverhältnisse. Wir kennen auch den gegenteiligen Effekt. Man fängt an zu rechnen, Bürgergeld, Wohngeld, sonstige Leistungen, und das einem möglichen Verdienst gegenüberstellt. Da kann der Punkt kommen, an dem man denkt: Das lohnt sich nicht. Trotzdem, eine Einwanderung in die Sozialsysteme sehen wir hier nicht.

Wie haben Sie das geschafft?

Wir haben nicht nur Fachkräftemangel, sondern auch günstige Voraussetzungen - viele Vereine, zum Beispiel, die sich bei Sprachkursen und Integration engagieren. Unternehmen, die sich ohnehin in ihrer Belegschaft internationaler aufstellen.

Was bedeutet es für Jena, wenn die AfD stärkste Kraft im Land wäre? Kann das nicht auch potenzielle Fachkräfte abschrecken?

Das ist jetzt schon so. Eine starke AfD vor Ort wäre ganz klar ein negativer Standortfaktor. Wenn wir beispielsweise Antrittsbesuche von Botschaftern bekommen, kommen wir immer irgendwann auf das Thema zu sprechen. Dann sage ich immer: Bei uns ist das nicht so. Man muss keine Angst haben, mit Migrationshintergrund herzuziehen. Trotzdem merkt man das Misstrauen von außen. Die Uni merkt das und die internationalen Unternehmen auch. Das liegt immer wie ein Schatten über allem.

In den aktuellen Wahlkämpfen gab es oft heftige Anfeindungen gegen Kandidaten und Amtsträger – bis hin zur Gewalt. Wie ist das bei Ihnen?

Wenn ich in größerer Runde mit meinem Amtskollegen darüber spreche, ist mein Eindruck, dass weit über die Hälfte schon sehr konkrete Erfahrungen damit gemacht hat. Ich selbst habe bislang nur einmal eine Morddrohung per E-Mail erhalten. Dabei war sehr aufwändig der Absender verschleiert worden. Das hat mir schon zu denken gegeben. Daher haben wir uns das genauer angesehen. Ansonsten habe ich aber noch keine Bedrohungen oder gar Gewalt erlebt.

Was macht Ihnen Hoffnung?

Zum Beispiel das Bündnis Weltoffenes Thüringen. Da machen alle möglichen Leute mit. Sie alle versuchen in ihrem Umfeld in den diskursiven Nahkampf mit den Menschen zu gehen. Das gelingt auch, auf diese Weise kann man die Menschen noch erreichen. In Jena haben wir daran angelehnt zusätzlich noch eine eigene Kampagne gemacht. Wir haben Menschen vorgestellt, beispielsweise aus dem Klinikum, die uns sehr fehlen würden, wenn sie nicht mehr da wären. Wir brauchen diese Menschen und wir wollen sie auch bei uns. Ich glaube, diese Art der Kommunikation funktioniert.

Mit Thomas Nitzsche sprach Volker Petersen

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