An der Front im Osten sehen sich die Ukrainer mit einer neuen Bedrohung konfrontiert: Nördlich von Kupjansk dringt die russische Armee kurzzeitig über den Fluss Oskil vor. Setzt die Invasionsarmee hier zu einer neuen Offensive auf die Millionenstadt Charkiw an?
Aus den Kampfgebieten in der Region Charkiw erreichen den Kiewer Generalstab alarmierende Berichte: Das russische Militär weitet seine Angriffsoperationen offenbar aus. Bei Kupjansk sollen russische Stoßtruppen an mehreren Stellen den Fluss Oskil überquert haben. "In der Nähe des Dorfes Nowomlynsk versuchte der Feind, einen Brückenkopf am rechten Ufer des Flusses Oskil zu erobern und zu halten", bestätigte die ukrainische Militärführung.
Der Angriff auf Nowomlynsk erfolgte an einem bisher vergleichsweise ruhigen Frontabschnitt. Der kleine Ort liegt rund 20 Kilometer nördlich des Regionalzentrums Kupjansk am westlichen Ufer des Oskil. Der stark gewundene Fluss bildet hier eine Art natürliche Barriere - im Osten liegen dichte Nadelwälder, im Westen überragen Anhöhen und ein Steilufer das Tal, breite Sumpfzonen begleiten den hier etwa 40 Meter breiten Strom.
Östlich von Kupjansk wird seit Monaten intensiv gekämpft. Im Herbst stießen russische Einheiten von Nordosten kommend zeitweise sogar bis ins Kupjansker Stadtgebiet vor. Am Oberlauf des Oskil jedoch - also zwischen Kupjansk und der Landesgrenze - standen sich beide Seiten seit Herbst 2022 weitgehend unverändert gegenüber. Der Frontabschnitt blieb bis zuletzt von größeren Kampfhandlungen verschont - auch weil das Gelände dort für beide Seiten eigentlich wenig Aussicht auf erfolgreiche Vorstöße verspricht.
Die Überlegenheit an Mensch und Material habe es den Angreifern ermöglicht, den Fluss bei Nowomlynsk zeitweise zu überqueren, heißt es aus Kiew. Der Angriff sei gescheitert. "Mit Unterstützung von Artillerie- und Drohneneinheiten" sei der "Feind aus dem Brückenkopf gedrängt" worden. Anschließend hätten insbesondere Soldaten des 8. Separaten Sturmbataillons der 10. Separaten Gebirgssturmbrigade "Edelweiß" das Gebiet in der Nähe von Nowomlynsk von feindlichen Kräften geräumt.
"Das rechte Ufer des Oskil steht unter der Kontrolle der Verteidigungskräfte", betonte das ukrainische Militär nach dem Gefecht. "Ukrainische Flaggen wehen über Nowomlynsk." Die ukrainischen Angaben sind ungewohnt detailliert, enthalten jedoch kein genaues Datum. Sicher ist bislang nur, dass der Angriff Anfang Dezember abgewehrt werden konnte. Die Kämpfe dort sind aber anscheinend nicht der einzige Brennpunkt am Oskil: Militärbloggern zufolge gab es in den vergangenen Tagen an mindestens zwei weiteren Stellen kleinere russische Vorstöße.
Die russischen Bewegungen am Oskil wirft aus ukrainischer Sicht unangenehme Fragen auf: Die Überquerung von Flüssen unter Gefechtsbedingungen zählt zu den riskantesten militärischen Unternehmungen überhaupt. In der Ukraine waren solche Aktionen für russische Verbände zuvor bereits mehrfach katastrophal gescheitert - unter anderem auch nicht weit entfernten Fluss Siwerskyj Donez.
Dass die russischen Kriegsplaner mittlerweile erneut zu solchen Mitteln greifen, verheißt für die Ukrainer nichts Gutes. Der Angriff über den Fluss zwingt die Verteidiger nicht nur dazu, die ohnehin ausgedünnten Linien auch an vermeintlichen stabilen Frontabschnitten zu verstärken. Zur Abwehr ähnlicher Vorstöße müssen die Ukrainer kampfstarke Reserven bereithalten und sie bei Bedarf über weite Strecken in den Einsatz werfen.
Gleichzeitig zeigt der gescheiterte Angriff auch, dass die russische Seite nach neuen Schwachstellen sucht und - trotz horrender Verluste - weiterhin über ausreichende Kräfte verfügt, um die Ukrainer an weiteren Abschnitten der rund 1000 Kilometer langen Frontlinie anzugreifen.