Kevin Kühnerts krankheitsbedingter Abgang erfährt viel Mitgefühl. Die Trauer aber hält sich in der SPD in Grenzen. Mit Matthias Miersch kann die Partei-Linke einen einflussreichen Strippenzieher als Nachfolger platzieren. Im nahenden Bundestagswahlkampf hält jedoch ein anderer die Fäden in der Hand.
Die Ampel frisst ihre Kinder: Nach dem Rücktritt der Grünen-Hoffnungsträgerin Ricarda Lang, zusammen mit ihrem Co-Vorsitzenden Omid Nouripour, hat auch SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert seinen Posten aufgegeben. Die 30-jährige Lang und der 35-jährige Kühnert galten als prägende Figuren ihrer Parteien für die kommenden Jahre. Kühnert will sich nun nicht einmal mehr für ein Bundestagsmandat bewerben. Seine Vorgesetzten, die Parteichefs Saskia Esken und Lars Klingbeil, ließen am Montag keine Zweifel daran, dass Kühnerts mentale Erkrankung auf die hohe Belastung des politischen Betriebs zurückgehe. Doch bei allem aufrichtigen Mitgefühl hält sich die Trauer in der SPD um Kühnert in Grenzen.
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Im zuletzt wieder einflussreicher gewordenen konservativen Flügel rund um den Seeheimer Kreis war der Partei-Linke Kühnert ohnehin nie populär. Der frühere Juso-Vorsitzende war 2017 mit seiner NoGroKo-Kampagne bekannt geworden, mit der er schließlich eine Abstimmung erzwang über eine erneute Beteiligung der SPD an einer Bundesregierung unter Führung von CDU und CSU. Auch gegen Olaf Scholz als möglichen Parteivorsitzenden hatte Kühnert Stimmung gemacht und die späteren Sieger im Mitgliederentscheid unterstützt, Saskia Esken und Norbert-Walter Borjans. Dennoch wurde der Freund des damaligen SPD-Generalsekretärs Lars Klingbeil 2021 dessen Nachfolger, als Klingbeil selbst zum Parteichef aufrückte.
Im neuen Amt tat sich Kühnert erkennbar schwer: Als Generalsekretär musste er öffentlich die Ampel verteidigen, während er sich selbst massiv an Positionen und Stil der FDP rieb. Die Europawahlkampagne war der erste maßgeblich von Kühnert verantwortete Wahlkampf - und ging gründlich daneben. Die Reaktion des Willy-Brandt-Hauses - "Kämpfen lohnt sich!" - auf die schwachen Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen sorgte für Irritationen in der Partei. Auch Kühnerts Wortmeldung zu seiner eigenen Diskriminierungserfahrung als schwuler Mann durch muslimische Männer auf den Straßen Berlins stieß auf Widerspruch in der Partei.
Alles in allem fehlte dem einstigen Popstar der Partei ein glückliches Händchen in seiner gehobenen Parteifunktion. Der Versuch, Kühnert als Nachfolger für den mittelfristig als Bundesminister gehandelten Klingbeil aufzubauen, ist gescheitert. Der 46-jährige Klingbeil, der ab 2017 vier Jahre Generalsekretär war, trägt weiter die maßgebliche Verantwortung in der Parteizentrale Willy-Brandt-Haus.
Ein Mann für schwierige Missionen
Mit Matthias Miersch zieht nun zumindest viel Erfahrung in das Amt des Generalsekretärs ein: Der 55-Jährige ist wie Kühnert prominenter Vertreter des linken Parteiflügels. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende war schon als Nachfolger des Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich gehandelt worden, ehe Mützenich sich zum Weitermachen entschied. Miersch, Wahlkreisabgeordneter des südlichen Umlands von Hannover, hat sich vor allem als Klima- und Energiepolitiker einen Namen gemacht. Für die SPD verhandelte der Jurist maßgeblich das Heizungsgesetz mit. Er betont gerne seinen Beitrag, das Gesetz aus dem Haus von Robert Habeck praktikabler und sozialer ausgestaltet zu haben als im Ursprungsentwurf vorgesehen.
Miersch ist seit 2005 Bundestagsabgeordneter und als Bezirksvorsitzender der SPD Hannover ein Nachfolger des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Miersch war es deshalb zugefallen, für die Partei die Laudatio auf Schröder zu dessen 60 Jahren Parteimitgliedschaft zu halten. Andere Genossen hatten zuvor noch vergeblich Schröders Ausschluss gefordert wegen dessen unverbrüchlicher Freundschaft zum russischen Staatschef und Kriegsverbrecher Wladimir Putin. Miersch verteidigte die Ehrung des Altkanzlers mit dessen historischen Verdiensten als Regierungschef und niedersächsischer Ministerpräsident sowie mit der Meinungsvielfalt im Rahmen des Grundgesetzes. Eine Volkspartei wie die SPD müsse die aushalten. Schwierige Missionen sind ein Spezialgebiet des Juristen Miersch - nicht erst, seit er als Anwalt im Jahr 2009 die fortgesetzte Marktzulassung der populären Kartoffelsorte "Linda" erstritt.
Die Niedersachsen-Connection wächst
Doch die neue Aufgabe wird besonders heikel: Die Kanzlerschaft von Olaf Scholz zu retten, obwohl sich Miersch als Sprecher der Parlamentarischen Linken nun wirklich nicht zu dessen größten Fans zählt. "Eine verdammt große Aufgabe" sei das, sagte miersch bei seiner Vorstellung und versicherte dem Kanzler seine Loyalität. Aber: "Ich werde nicht bequem und ein einfacher Ja-Sager sein."
Schwierig ist die bei aller Erfahrung und Vernetzung in Fraktion und Partei kurze Einarbeitungszeit: Schon in der kommenden Woche will der Vorstand den Weg hin zur Bundestagswahl skizzieren. Miersch deutete an, dass unter Kühnert schon vieles von der kommenden Kampagne vorbereitet worden sei. Mit Kühnerts Wegfall verschiebt sich vorerst wieder mehr Macht und Verantwortung auf Klingbeil, dem im Gegensatz zu Esken unumstrittenen Parteichef.
Er und Miersch kennen einander gut, nicht zuletzt, weil sie beide Niedersachsen sind. Die Landesgruppe ist längst prägendes Machtzentrum der Partei: Auch Arbeitsminister Hubertus Heil und Verteidigungsminister Boris Pistorius gehören dem Landesverband an, ebenso der einflussreiche Haushaltspolitiker Dennis Rohde und Pistorius' Staatssekretärin Siemtje Möller. Diese war zudem Sprecherin des Seeheimer Kreises, wurde dort aber von der Bundestagsabgeordneten Marja-Liisa Völlers abgelöst, ebenfalls eine Niedersächsin. Das vom Sozialdemokraten Stephan Weil regierte Bundesland ist zugleich letzte SPD-Hochburg unter den Flächenländern.
Scholz ist zwar auch in Niedersachsen geboren, aber in Hamburg aufgewachsen, wo er schließlich Erster Bürgermeister wurde. Die dortigen Bürgerschaftswahlen am 2. März werden der letzte Stimmungstest vor der Bundestagswahl am 28. September. Diese zu managen, wird neben Miersch dem in dieser Frage viel erfahreneren Klingbeil zufallen. Der gilt als Mastermind hinter dem Bundestagswahlsieg 2021. In den Monaten vor der Abstimmung hatte Klingbeil Mantra-artig betont, dass diese erst in den letzten Wochen vor dem Abstimmungstermin entschieden werde. Er sollte damit recht behalten - anders als die vielen Journalisten, die den SPD-Kanzlerkandidaten Scholz schon früh abgeschrieben hatten.
Ein Parteilinker für das Wirtschaftsprofil
Unklar ist, wie die SPD ihr strategisches Manko ausgleichen will, dass derzeit soziale Themen wenig populär sind. Auch Miersch fällt neben umwelt- und energiepolitischen Themen vor allem mit sozialen Forderungen auf: Er wird das absehbare SPD-Wahlkampfthema einer weiteren, deutlichen Mindestlohnerhöhung mit Leichtigkeit vertreten können. Doch Klingbeil sagte bei Mierschs Vorstellung, der kommende Wahlkampf werde sich stark um die Themen Wirtschaftswachstum und Industriearbeitsplätze drehen.
Beim Thema Wirtschaftskompetenz hingegen fehlt es der SPD an profilierten Gesichtern - und das, während 2024 die deutsche Wirtschaft das zweite Jahr in Folge schrumpft. Miersch könnte versuchen, hier künftig stärker zu punkten. Er ist zumindest deutlich mehr im Thema als Kühnert. Allerdings droht dabei ein Konflikt mit dem Bundeskanzler: Anders als Scholz etwa befürwortet Miersch einen Industriestrompreis, also eine Strompreissubvention für energieintensive Unternehmen. Generell stellt er sich eine aktivere, potenziell teure Rolle des Staates vor, sei es bei der Sicherung von Industriearbeitsplätzen oder Investitionen in die Infrastruktur. "Wir brauchen einen starken, einen handlungsfähigen Staat, der investiert in Zukunft und Zusammenhalt", sagte Miersch am Dienstag im Willy-Brandt-Haus.
Die ebenfalls hoch im Kurs stehenden Themen Migration und innere Sicherheit sind noch weniger als die Wirtschaft ein Steckenpferd von Miersch. Einerseits. Andererseits hätte es ohne den Juristen Matthias Miersch den Bundestagsabgeordneten Adis Ahmetovic wohl nie gegeben: Der SPD-Politiker aus Hannover ist Kind zweier Kriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzowina, die 1996 wieder dorthin hätten abgeschoben werden sollen. In einem jahrelangen Rechtsstreit setzte Miersch schließlich ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht für die Familie Ahmetovic durch. Sohn Adis zog 2021 mit 28 Jahren ins Pralament ein.
Ausreisepflichtigen Menschen eine Perspektive in Deutschland zu ermöglichen, ist derzeit ebenso wenig ein Kassenschlager wie Mierschs Werben für eine konsequente Klimaschutzpolitik. Dennoch wird er die Geschichte um Ahmetovic wohl all jenen entgegenhalten, die nur noch über die Probleme der Zuwanderung sprechen möchten.
Linnemann streckt die Hand aus
Dass die SPD nach der Bundestagswahl wieder Juniorpartner der Union werden könnte, ist für den Klimapolitiker Miersch keine rosige Aussicht. Auch er hatte sich 2017 noch gegen eine Große Koalition ausgesprochen und erst nach dem Scheitern aller anderen Möglichkeiten einem erneuten Regierungsbündnis unter Angela Merkel zugestimmt. "Diese Merz-CDU, die so ziemlich alles verkörpert, wofür ich nicht nicht stehe", wolle er inhaltlich stellen, sagte Miersch bei seiner Vorstellung.
Miersch fordert wie die gesamte Parteilinke eine Reform der Schuldenbremse und eine Besteuerung großer Vermögen. Bei der Verabschiedung der Schuldenbremse hatte Miersch dagegen gestimmt - auch weil ein sozialverträglicher Umbau hin zu erneuerbaren Energien nicht ohne massive Investitionen gehe. Das "Desaster", in dem Deutschland heute mit der Schuldenbremse stecke, habe er damals schon kommen sehen, sagte Miersch am Dienstag.
Doch zumindest wird Miersch als Politikprofi geschätzt bei den Konservativen: CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sagte in der ntv-Sendung "Frühstart", man habe in der Großen Koalition gut zusammengearbeitet. "Ich habe ihn schätzen gelernt, bin mir sicher, dass er immer noch so ist, wie er war, dass man vernünftig miteinander umgeht", sagte Linnemann. Er freue sich auf die Zusammenarbeit.
Der in eingetragener Partnerschaft mit einem Mann liierte Miersch ist auch trotz 20 Jahren mehr Lebenserfahrung als Kühnert nicht unbedingt vom alten Schlag: Rege versucht er, sich via Instagram und Tiktok an den immer wichtigeren Plattformen politischer Kommunikation zu beteiligen. Anders als Kühnert produziert Miersch sogar eigene Beiträge für Tiktok, statt nur Schnipsel von TV-Auftritten zu posten. Die Reichweite seines Profils ist zwar noch überschaubar. Aber als Kampagnenmanager und neues Gesicht seiner Partei steht Miersch nach so vielen Jahren in der Politik ja noch ganz am Anfang.