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Netanjahus Ablenkungsmanöver: Hängt Israels Sicherheit von diesem Stückchen Wüste ab?



Benjamin Netanjahu will seine Truppen im Philadelphi-Korridor zwischen Gaza und Ägypten belassen. Sonst sei Israel nicht sicher. Stimmt das? Und: Wie entstand die Pufferzone einst?

Mossad-Chef David Barnea hatte gerade einen neuen Verhandlungs-Anlauf genommen, als sein Premierminister ihm in den Rücken fiel. Öffentlich, und zur besten Sendezeit. Bewaffnet mit einem hölzernen Zeigestock stellte sich Benjamin Netanjahu vergangenen Montagabend vor die Landkarte eines seltsam vergrößerten Israel und tippte auf ein Stück rote Linie ganz links unten: Die 14 Kilometer lange Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten.

Barnea, sein Unterhändler, hatte in Katars Hauptstadt Doha nur Stunden zuvor gesagt, im Zuge eines mehrstufigen Abkommens zum Austausch der noch in Hamas-Geiselhaft befindlichen Israelis gegen in Israel inhaftierte Palästinenser sei ein Abzug der israelischen Truppen aus dieser Gegend vorstellbar. Die Initiative schien einen Funken Hoffnung keimen zu lassen für die 101 noch immer Entführten und ihre Angehörigen, wenige Tage nachdem die Hamas sechs Geiseln in ihrem Tunnelgefängnis kaltblütig ermordet hatte. 

Doch der Funke erlosch mit Netanjahus Auftritt. "Die Achse des Bösen braucht den Philadelphi-Korridor", donnerte der Premier. "Aus diesem Grund müssen wir den Philadelphi-Korridor kontrollieren. Die Hamas besteht darauf, dass wir dort nicht präsent sind. Genau deshalb müssen wir dort präsent sein."

Seither wird immer deutlicher, wie einsam Israels Premier mit dieser Einschätzung dasteht. Weder Ägypten, noch Katar, noch die US-Regierung akzeptieren seine Forderung nach einer dauerhaften israelischen Truppenpräsenz im Philadelphi-Korridor. 

Will Netanjahu die Verhandlungen torpedieren?

Dazu kommt: Nahezu alle namhaften israelischen Sicherheits-Experten halten sie für eine Scharade, die in Wahrheit nicht von Sorgen um Israels Sicherheit motiviert ist, sondern vom Ziel, die Verhandlungen zur Rettung der verbliebenen Hamas-Geiseln zu torpedieren. Selbst der amtierende Verteidigungsminister lässt durchblicken, dass er Netanjahus Argumentation zum Philadelphi-Korridor für vorgeschoben hält.

"Das Problem ist nicht der Philadelphi-Korridor. Sondern die Abwesenheit strategischer Entscheidungen." Mit diesen Worte brachte kurz nach Netanjahus Pressekonferenz Benny Gantz, Generalleutnant, ehemaliger Oberbefehlshaber der israelischen Armee und einer der erfahrensten Soldaten seines Landes stellvertretend für viele hochrangiger Persönlichkeiten aus Armee und Geheimdiensten seine Entrüstung über Netanjahus Manöver auf den Punkt. 

US-Präsident Joe Biden beanwortete die Frage eines Reporters, ob Netanjahu genug tue, um die Rettung der Geiseln voranzutreiben, einsilbig: "No."

Ihre Söhne und Brüder wären umsonst gestorben

Israels Premier aber kann sich trotz allem des Rückhalts aus dem Lager seiner national-religiösen Koalitionspartner sicher sein. Viele junge Männer aus diesem Teil der Gesellschaft haben in Elite-Einheiten der Armee am Gazakrieg teilgenommen. Gemessen am Bevölkerungsanteil der Nationalreligiösen ist die Zahl der Gefallenen und Verwundeten aus ihren Reihen überproportional hoch. 

Viele aus ihren Kreisen sind bereit, das Leben der Geiseln gegen das ihrer getöteten Söhne und Brüder aufzurechnen. Die wären umsonst gestorben, wenn Israel der Hamas gegenüber nun Zugeständnisse mache, finden sie. 

Dazu kommt: Die Nationalreligiösen begreifen den Gazakrieg als Gelegenheit, ihrem Ziel eines biblischen Groß-Israel inklusive Westjordanland und Gazastreifen näher zukommen. Seit Monaten treiben sie die illegale Landnahme in den besetzten Gebieten voran. Die Wiederbesiedlung des Gazastreifens propagieren sie offen. An einem Deal und einer Waffenruhe haben sie auch deswegen kaum Interesse, weil sie sich von der Fortsetzung des Kriegs einen Vorteil versprechen.

Netanjahus Philadelphi-Rede kam ihnen gerade recht.

Philadelphi-Korridor Eine etwa 100 Meter breite Pufferzone entlang der südlichen Grenze des Gaza-Streifens: der sogenannte Philadelphi-Korridor (Aufnahme aus dem Januar 2024)

Fraglich ist außerdem, ob Hamas-Chef Yahya Sinwar auf einen Deal eingehen würde, selbst wenn Israel den Korridor räumte. Mit den Geiseln verlöre er sein wichtigstes Faustpfand. Außerdem spielt womöglich auch er auf Zeit – in der Hoffnung, dass der Gazakrieg doch noch zu einem Flächenbrand im gesamten Nahen Osten wird. Weil der Iran Israel angreift. Oder weil der schwelende Aufstand im Westjordanland offen ausbricht. Israelische Sicherheitskreise befürchten, dass die Hamas dort eine Welle von Selbstmordanschlägen gegen zivile Ziele vorbereitet. Ein Alptraum-Szenario.

Das Signal ist: Wir bleiben hier

Der Philadelphi-Korridor wird wohl auf absehbare Zeit ein Zankapfel bleiben. Nicht so sehr, weil das Gebiet strategisch wichtig ist. Das ist es zwar. Aber Israels Sicherheit würde ein – möglicherweise nur vorübergehender – Abzug der Armee kaum beeinträchtigen. 

Der schmale Wüstenstreifen ist als Hebel in den Händen all derer auf beiden Seiten, die ein größeres Interesse an der Fortsetzung dieses Kriegs haben als an Frieden und Sicherheit, viel zu nützlich, als dass sie ihn aufgeben würden.

Israels Armee hat derweil begonnen, die alte Schotterpiste, aus der der Korridor bisher im Wesentlichen bestand, zu verbreitern und zu asphaltieren. Das Signal ist eindeutig: Wir bleiben hier.

Wo liegt der Philadelphi-Korridor?

Der 14 Kilometer lange und nur 100 Meter breite Streifen Niemandsland erstreckt sich am südlichen Rand des Gazastreifens entlang der Grenze zu Ägypten. Der Korridor wurde 1978 im Rahmen des israelisch-ägyptischen Abkommens von Camp David geschaffen – als Sicherheits-Zone zwischen der ägyptischen Sinai-Halbinsel, die Israel bis 1982 besetzt hielt, und dem von Israel besetzten Gazastreifen. Bis heute säumen Stacheldrahtwälle und Betonsperren das weitgehend unbebaute, sandige Gebiet. Die Bezeichnung "Philadelphi" geht auf einen Funk-Code der israelischen Armee zurück. Auf Arabisch heißt der Landstreifen "Saladin-Achse" (Mihwar Salahudin), weil er quer zur Saladin-Straße verläuft, der Hauptverkehrsachse von Nord nach Süd durch den Gazastreifen.

Wozu wurde die Pufferzone geschaffen?

Ursprünglich nutzte Israels Armee den Korridor als Patrouillenweg zur Kontrolle der südlichen Grenze des Gazastreifens zwischen dem Mittelmeer im Westen und der ägyptisch-israelischen Grenze beim Übergang Kerem Schalom im Osten. Das Ziel war damals die Absicherung Israels gegenüber dem ehemaligen Feind Ägypten. Im Rahmen ihres 1979 geschlossenen Friedensvertrags vereinbarten Israel und Ägypten eine Demilitarisierung der angrenzenden ägyptischen Sinai-Halbinsel. Auch Israel verpflichtete sich darin auf Höchstgrenzen an Soldaten und militärischem Gerät, die es im Philadephi-Korridor stationieren darf.

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Wieso gab Israel die Kontrolle über den Grenzstreifen auf?

Weil es sich nicht um eine Außengrenze Israels handelt. Im Zuge des einseitigen Rückzugs der israelischen Armee aus dem Gazastreifen und der Räumung der dortigen jüdischen Siedlungen 2005 zog sich Israels Armee auch aus der Pufferzone zurück. Im gleichen Jahr schlossen Israel und Ägypten ein Abkommen, das Ägypten erlaubte, eine 750 Mann starke Grenztruppe auf seiner Seite der Grenze zum Gazastreifen zu stationieren, samt leichter Ausrüstung: acht Helikopter, 30 leicht gepanzerte Fahrzeuge, vier Patrouillenboote. Auf palästinensischer Seite sollten Einheiten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) für Sicherheit entlang der Grenze sorgen. Doch 2007 verlor die PA die Kontrolle über den Gazastreifen an die Hamas. Seither war die palästinensische Seite der Grenze unter Kontrolle der Islamisten. Bis Israels Armee den Philadelphi Korridor im Rahmen des Gaza-Kriegs im Mai 2024 erneut eroberte.

Welche Bedeutung hat der Philadelphi-Korridor heute?

Seit 2007 hat die Hamas die Kontrolle über die Grenze zu Ägypten genutzt, um Waffen durch Tunnel zwischen Gaza und Ägypten in ihr Herrschaftsgebiet zu schmuggeln und an der Besteuerung des Waren- und Personenverkehrs über den einzigen Grenzübergang zwischen Ägypten und dem Gazastreifen in der Stadt Rafah zu verdienen. Israel hat über die Jahre immer wieder Druck auf Ägypen ausgeübt mit dem Ziel, das zu unterbinden, allerdings mit wechselndem Erfolg. In der Zeit zwischen 2012 und 2016 kooperierte Kairo mit Israel, ließ Tunnel fluten und Tausende Häuser auf ägyptischer Seite der Grenze zerstören, um den Schmuggel zu bekämpfen. 

Ab 2016 jedoch suchte die ägyptische Regierung gute Beziehungen zur Hamas, weil sie die Hilfe der Islamisten brauchte, um eine islamistische Rebellion auf dem Sinai zu bekämpfen. Die Hamas kappte damals ihre Beziehungen zur ägyptischen Muslimbruderschaft. Auch Israel beteiligte sich in dieser Zeit am Kampf gegen den Aufstand auf dem Sinai mit Luftangriffen auf Rückzugsorte der Rebellen dort. Im Zuge der Annäherung zwischen Ägypten und der Hamas blühte auf beiden Seiten der Grenze das Geschäft mit dem Grenzverkehr. 

2018 schlossen die Hamas und Israel ein Abkommen zur Lockerung der israelischen Blockade des Gazastreifens, in dessen Zug der Grenzübergang Rafah dauerhaft geöffnet wurde. Seither kamen immer mehr Güter über Rafah in den Gazastreifen: Der Anteil an den Gesamtimporten nach Gaza stieg von unter zehn auf 37 Prozent im Jahr 2023. Das hatte zwei Konsequenzen: Der Güter- und Personenverkehr war Israels Kontrolle weitgehend entzogen. Und: Die Hamas und die ägyptischen Behörden verdienten prächtig an Gebühren und Steuern. Die Hamas allein soll aus dem Grenzgeschäft in Rafah monatlich 14 Millionen US-Dollar gewonnen haben.

Es waren auch weniger die dieser Tage oft zur Schau gestellten Schmuggler-Tunnel unter dem Philadelphi-Korridor als vielmehr der reguläre Grenzübergang in Rafah, den Hamas zum Import von Waffen und Dual-Use-Güter nutzte.

Warum hat Israel den Philadelphi-Korridor im Mai 2024 zurückerobert?

Den Grenzübergang Rafah hatte Israel schon vor Wochen zuvor seine Kontrolle gebracht. Dann folgte, als nächster Teil der laufenden Bodenoffensive in der Stadt Rafah die Rückeroberung des gesamten Grenzstreifens zu Ägypten. Schon Monaten zuvor hatte Israel angekündigt, ein Kriegsziel sei die Wiedererlangung der Kontrolle über den Philadelphi-Korridor aus Sicherheitsgründen: Tunnel sollten zerstört werden, um den Waffenschmuggel und die Flucht von Hamas-Kadern zu unterbinden. 

Immer wieder aber haben israelische Politiker außerdem angedeutet, sie wollten Palästinensern in möglichst großer Zahl die "Ausreise" aus dem Gazastreifen ermöglichen. Viele Bewohner Gazas verstanden das als Drohung, sie über die Grenze nach Ägypten zu vertreiben. Aus diesem Grund hat Ägypten die Grenze zum Gazastreifen seit dem 7. Oktober 2023 geschlossen gehalten und Palästinenser aus Gaza nur in sehr kleiner Zahl und nach Zahlung horrender Gebühren einreisen lassen. Die Regierung in Kairo fürchtet eine Destabilisierung Ägyptens, falls Millionen Palästinenser ins Land kommen sollten – und mit ihnen Seilschaften der Hamas den Sinai infiltrieren. Die Zustände in Jordanien in den frühen 1970er Jahren, als palästinsische Milizen die Herrschaft des dortigen Königshauses bedrohten, und im Libanon zu Zeiten des Bürgerkriegs in den 1980er und 1990er Jahren, der mit durch die Präsenz palästinensischer Flüchtlinge und bewaffneter Milizionäre ausgelöst wurde, sind Ägyptens Regierung warnende Beispiele. Ägypten hat seine Militärpräsenz entlang des Philadelphi-Korridors im Frühjahr um 40 Panzer und weitere gepanzerte Fahrzeuge verstärkt.

BidenWaffenIsraelommentar15.10

Würde eine dauerhafte israelische Militärpräsenz im Philadelphi-Korridor den Friedensvertrag mit Ägypten gefährden?

"Der Philadelphi-Korridor muss in unserer Hand sein. Kein anderes Arrangement könnte die Demilitarisierung (des Gazastreifens) sicherstellen, die unser Ziel ist", sagte Israels Premier Benjamin Netanjahu schon Ende 2023. Seither warnen offizielle Stimmen aus Kairo, eine erneute israelische Okkupation des Korridors wäre eine Verletzung des 45 Jahre alten Friedensabkommens zwischen beiden Staaten. Bei einem Schusswechsel zwischen ägyptischen und israelischen Truppen an der Grenze starb Ende Mai 2024 ein ägyptischer Soldat. 

Offiziell betrachtet das Regime von General Abdel-Fattah al-Sisi die israelische Eroberung des Philadelphi-Korridors als Verletzung der ägyptischen Souveränität. Trotzdem ist Kairo um eine Beruhigung der Lage bemüht, denn das hoch verschuldete Ägypten ist abhängig von amerikanischer Militärhilfe und internationalen Krediten. Israel hat außerdem deutlich gemacht hat: Im Kampf gegen die Hamas ist es bereit, rote Linien Kairos zu überschreiten.

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