Wille und Kampfeslust sind wichtig – aber im Übermaß vernebeln sie die Sinne, wie die deutsche Nationalmannschaft beim 2:2 gegen die Niederlande lernen muss.
Kurze Rückblende in ein anderes Erdzeitalter, in die Ära Hansi Flick. Unermesslich weit scheint diese zurückzuliegen, vergessen gemacht von der Ära Nagelsmann, die die Eiszeit im deutschen Fußball beendet hat. Am Dienstagabend jedoch waren sogenannte Flick-Phänomene zu beobachten in Amsterdam, Stadtbezirk Zuidoost. Bilder, die an tiefschwarze Tage erinnerten wie an den 28. März 2023.
Damals spielte die Nationalmannschaft in Köln gegen Belgien. 0:2 lag sie schon nach neun Minuten zurück, und das hatte vor allem mit einem Stürmer der Belgier zu tun: Romelu Lukaku. An ihm zerschellten die deutschen Verteidiger. Den Außenbahnspieler Thilo Kehrer wischte er weg wie eine lästige Fliege, den Innenverteidiger Matthias Ginter kickte er mit dem Gesäß weg. Niemanden ließ Lukaku, 1,91 Meter groß und 93 Kilo schwer, an sich heran.
Jonathan Tah im Stile eines Wrestlers
Am Dienstag, im Nations League-Spiel gegen die Niederlande, fand Lukaku seinen Wiedergänger in Brian Brobbey, 1,80 groß und 80 Kilo schwer. Das Hallendach der Johan-Cruyff-Arena war zwar wegen Unwetters geschlossen, doch unten auf dem Rasen wirbelte Hurrikan Brobbey. Nicht zu stoppen von Jonathan Tah, jedenfalls nicht mit fairen Mitteln.
Wie ein Wrestler nahm er Brobbey in den Schwitzkasten, was Tah früh eine Gelbe Karte einbrachte. Nicht zu stoppen war er auch von Nico Schlotterbeck, der es subtiler versuchte, nämlich durch Stellungsspiel – und doch immer falsch stand. In der zweiten Halbzeit durfte sich dann noch Waldemar Anton probieren. Anton machte es nur deshalb etwas besser als die beiden anderen Innenverteidiger, weil Brobbey gegen Spielende die Luft ausging.
Aber da hatte Brobbey sein Werk schon vollbracht: Das 1:0 durch Reijnders hatte er vorbereitet (2. Minute), ebenso wie das Tor zum 2:2 durch Dumfries (51.).
Brobbey, 22 Jahre alt, Ergänzungsspieler von Ajax Amsterdam, einst gescheitert bei RB Leipzig, führte am Dienstag nur einen einzigen Trick vor: Er drehte sich in seine Gegenspieler wie eine Schraube in einen Dübel – befreite sich dann blitzschnell, legte den Ball ab oder drosch selbst aufs Tor. Eine simple Bewegung, aber doch zu anspruchsvoll für die deutsche Defensive an diesem Abend.
Die verlorenen Duelle gegen Brobbey zeigen, dass die Abwehr keineswegs so gefestigt ist, wie man nach dem rauschhaften 5:0 gegen Ungarn am Samstag verführt war zu glauben. Abwehrchef Antonio Rüdiger, dem Bundestrainer Julian Nagelsmann eine Pause gegönnt hatte, ist ebenso wenig zu ersetzen wie Toni Kroos, der zurückgetretene Defensivstratege. Man hätte Rüdiger, gestählt in tausend Spielen auf einem Freiplatz nahe der Berliner Sonnenallee, und Kroos, den kühlen Sechser, gern gegen diese Niederländer gesehen.
So aber muss der Bundestrainer erkennen, dass die von ihm betriebene Emotionalisierung des Spiels auch eine Kehrseite hat. Wenn alle brennen, wenn alle nur wollen, wollen, wollen, gerät mitunter die große Linie aus dem Blick.
Nagelsmann mahnt zu mehr Gelassenheit
Tah und Schlotterbeck wirkten am Dienstagabend wie gefangen im Kampfmodus; ihr Überehrgeiz ließ sie die falschen Dinge tun gegen Brobbey. Nagelsmann mahnte nach dem Spiel mehr Gelassenheit an: "Einfach dahinter bleiben, stellen und versuchen den Ball zu blocken. Generell ist es gut, wir wollen aggressive Spieler, aber das ist kein Moment, den Ball zu gewinnen. Einfach warten, dann kann Brobbey nichts machen."
Andererseits war es ebenjene Kampfeslust, die die Deutschen zurück ins Spiel brachte nach dem frühen Rückstand. Jamal Musiala und Florian Wirtz, die Helden des Ungarn-Spiels, blieben gegen die Niederlande zwar vergleichsweise blass, aber sie schleppten viele Bälle, vor allem der unermüdliche Wirtz. Das Angriffsspiel kurbelte Kai Havertz an, auch Deniz Undav, der für den verletzten Niklas Füllkrug in der Startelf stand, machte eine starke Partie.
Nagelsmann Nations League Kader 11:55
Pascal Groß hingegen, noch am Wochenende als Kroos-Double gefeiert, fand als Regisseur kaum statt. Das hatte nur zum Teil mit seiner Leistung zu tun. Die Niederländer überspielten das deutsche Mittelfeld einfach mit lang geschlagenen Bällen aus der Abwehr. Wer den Dschungel fürchtet, überfliegt ihn mit dem Helikopter – so machte es die Elftal. Genügend feine Füße für diese Taktik besitzen die Niederländer; vor allem Ryan Gravenbrech und Denzel Dumfries taten sich mit präzisen Steilpässen hervor.
Nationalmannschaft: Schnelles und ungestümes Spiel
Eine Taktik, die die Deutschen bald kopierten. Das machte die Partie schnell und vor allem ungestüm; sie wogte hin und her. Nagelsmann sprach zwar von einem „attraktiven, unterhaltsamen Spiel“, aber wirklich gefallen konnte ihm der wilde Schlagabtausch nicht. Nagelsmann liebt es, die Dinge zu kontrollieren. Er glaubt an Matchpläne und Konzepte, er sucht nicht den lucky punch.
Doch der Bundestrainer wollte an diesem Abend in Amsterdam die Stimmung nicht dämpfen. Wieder und wieder lobte er das Comeback seiner Mannschaft nach dem Rückstand; er sprach sogar von einem „weiteren Entwicklungsschritt“, den seine Spieler getan hätten.
Wenn man an frühere Erdzeitalter zurückdenkt, an den Orkan Romelu Lukaku, der in Köln tobte, hatte Nagelsmann damit auch Recht. Damals, im März, kamen die Deutschen nicht zurück nach den beiden Gegentreffern. Sie verloren 2:3, und danach reihte sich bis in den September Misserfolg an Misserfolg – bis die Ära Nagelsmann begann und damit eine neue Zeit, die sie beim DFB noch immer Zukunft nennen.