3 months ago

Nahost-Krieg bei "Caren Miosga": "40.000 Tote in Gaza scheinen Scholz absolut nicht zu interessieren"



Annalena Baerbock warnt bei "Caren Miosga" vor dem "Drehbuch des Terrors". In der Diskussion um Nahost findet sich kaum Hoffnung auf ein Ende des Leids. Experten kritisieren die Bundesregierung und mahnen, dass der Krieg im Libanon einen massiven Einfluss auf Migration nach Europa hat.

"Das Drehbuch des Terrors darf nicht aufgehen", sagt Annalena Baerbock. Die Bundesaußenministerin ist am Sonntagabend zu Gast beim ARD-Talk "Caren Miosga". Ein Jahr nach dem Überfall der Hamas auf Israel wird nun im Nahen Osten an mehreren Fronten gekämpft und es sterben viele Menschen im Libanon, in Gaza und in Israel. Es sei "unsere Verantwortung", dem Terror keine Chance, sagt Baerbock. Doch die Polit-Sendung zeigt, wie wenig fruchtbar jegliche Versuche sind, das Leid in der Region aufzuhalten.

"Ist der Krieg im Nahen Osten noch zu stoppen, Frau Baerbock?", lautet der Titel der Sendung. Und manch Zuschauerin oder Zuschauer wird verblüfft drein geschaut haben - gerade angesichts der dramatischen Lage in Nahost - als Talkmasterin Caren Miosga in der ersten halben Stunde ganz andere Fragen stellt. Etwa nach dem Geburtstag der Tochter der Grünen-Politikerin, der ausgerechnet auf den 7. Oktober fällt, oder nach dem Ukraine-Krieg ("Wladimir Putin ist nicht bereit zu Gesprächen"; "Olaf Scholz ist nicht gegen Waffen für die Ukraine, die Abschussbasen in Russland treffen können, sondern gegen Waffen für weitreichende Ziele - wobei nicht öffentlich verraten wird, was weitreichend heißt") und anschließend nach Baerbocks Reaktion auf Gerhard Schröders Auftritt beim Festakt zum 34. Tag der Deutschen Einheit in Schwerin, als er nur vier Plätze entfernt von ihr in der ersten Reihe saß ("Ich habe geschluckt").

Die anschließende Diskussion über die Kriegslage im Nahen Osten fällt dementsprechend verkürzt aus. Guido Steinberg, Islam- und Nahost-Experte von der Stiftung Wissenschaft und Politik, glaubt, dass die Situation sich weiter verschlimmern wird, weil sich nun Israel und der Iran direkt bekämpfen. "Die Iraner wollten nicht den ganz großen Schaden anrichten" mit ihren jüngsten Angriffen von etwa 180 Raketen, aber: "Diesmal gingen die Angriffe auch gezielt auf die Zivilbevölkerung." Israel habe bereits klar gesagt, dass es mit einem großen Angriff reagieren werde, "möglicherweise auf Nuklearanlagen, oder Öl-Einrichtungen oder Politiker werden getötet".

Gerlach: Israel geht im Libanon rücksichtslos vor

Daniel Gerlach, Chefredakteur des Magazins "Zenith", das sich mit der arabisch-islamischen Welt beschäftigt, lenkt das Thema auf den Kampf Israels mit der Hisbollah im Libanon. Diesen habe Israel lange vorbereitet, anders als den in Gaza: "Die Operation im Libanon kostet sehr viele zivile Opfer und wird mit einer enormen Rücksichtslosigkeit, aber nach einem strategischen Plan geführt wird, der schon lange in den Schubladen lag", sagt Gerlach.

Darüber dass es sich bei der Hisbollah um eine gefährliche Terrororganisation handelt, sind sich die drei Diskutanten einig. Aber für Gerlach dreht sich in der deutschen Politik zu viel um die Sichtweise Israels und zu wenig um die Zivilgesellschaft und das Leid in den anderen Ländern. Als "nicht konsequent und manchmal auch nicht glaubwürdig" bezeichnet er die deutsche Haltung. "Was ist denn mit den libanesischen Zivilisten, deren Orte im Süden Libanons massenhaft zerstört werden?", fragt er. Es gäbe Punkte, wo man sagen müsse: "Das ist völkerrechtlich und moralisch nicht in Ordnung". "Diese Diskussion kann man mit Israelis führen, ohne dass man antiisraelisch wäre oder dass man meint, die israelischen Interessen würden sekundär betrachtet", sagt Gerlach. "Es ist ja kein Fußballspiel, bei dem man sich für eine Seite entscheiden muss."

Die Sicherheitsinteressen der Menschen im Libanon, in der Westbank und in Gaza würden "argumentativ in die zweite Reihe gestellt und das merken die Menschen in der Region", sagt der Chefredakteur, um anschließend den Bundeskanzler direkt anzugreifen: "Das Thema der humanitären Hilfe, 40.000 Tote in Gaza und die Situation im Libanon scheinen Olaf Scholz absolut nicht zu interessieren", kritisiert er. "Abseits der legitimen Sicherheitsinteressen Israels scheint dieser Konflikt für ihn nicht zu existieren." Außerdem würde die "unglaubliche Zerstörung" im Libanon "massiven Einfluss auf Migration nach Europa" haben.

Baerbock kontert Kritik

Baerbock kontert, dass auch Scholz vor Ort in der Region war und die Bundesregierung sich immer wieder eingesetzt hat für Wasser und Essen für die Menschen in Gaza. "In Momenten, in denen wir das Gefühl haben, dass das Drehbuch des Terrors aufgeht, etwa wenn zu wenig humanitäre Hilfe nach Gaza reinkommt," würde man stets deutlich machen, dass das nicht geht. Dafür habe sie sich sogar mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in die Haare bekommen. Die Außenministerin betont das Recht Israels sich zu verteidigen, verweist aber bezüglich Libanon auf die vielen Raketen der Hisbollah auf den Norden Israels und bezeichnet "Deutschland als engen Freund Israels und der Palästinenser". Ihr ginge es bei der Sicherheit Israels auch nicht "um die Sicherheit der israelischen Regierung oder eines Ministerpräsidenten, sondern um den Staat, die Menschen und die folgenden Generationen".

Was Deutschland in der Region überhaupt erreichen kann, um den Krieg nicht noch weiter eskalieren zu lassen, möchte Miosga als Nächstes wissen. "Man kann den Frieden nicht herbeizaubern", antwortet Baerbock, die sich mit dem schwierigen Thema Nahost von Minute zu Minute unwohler fühlt. Deutschlands Beitrag sei, den Westen mit Schlüsselstaaten aus der arabischen Welt zusammenbringen und Vertrauen untereinander aufzubauen. Das habe funktioniert und das habe es "so noch nicht gegeben". Außerdem werde sie "nicht aufgeben, bis alle Geiseln" von der Hamas freigelassen werden, erklärt die Außenministerin ihre politischen Bemühungen: "Jetzt zu resignieren wäre genau das Ziel der Terroristen, dass das Drehbuch des Terrors aufgeht."

Gerlach glaubt zwar, dass der israelische Ministerpräsident die Geiseln zurückholen will, sagt aber: "Ich habe nicht den Eindruck, dass Netanjahu bereit ist, dafür einen politischen Preis zu bezahlen. Die Zeichen stehen auf Konfrontation." Auch die Rolle Deutschlands in der Region sieht der Chefredakteur kritischer, in den vergangenen Monaten sei "nicht viel Kraft auf die Straße gekommen". Gerlach erklärt, ihm "gehen die Argumente aus, wenn ich in der Region unterwegs bin und Erfolge der deutschen Außenpolitik vermitteln will".

"Israelische Regierung hat schlicht gelogen"

Islamexperte Steinberg stimmt zu, dass die "deutsche Außenpolitik in den vergangenen zehn Jahren enorm an Einfluss verloren hat" und "Deutschland in Sachen Sicherheitspolitik einfach kein Akteur ist". Bezüglich des Konflikts mit dem Libanon hätte Netanjahu "nicht gekümmert", dass selbst die USA die 21-tägige Feuerpause unterstützten, der Israel, Libanon und die Hisbollah zugestimmt hatten und die am 25. September hätte beginnen sollen. "Wieso sollte er dann auf die Wünsche Deutschlands oder Europas reagieren?", fragt Steinberg.

Wenige Tage nach dem vermeintlichen Deal tötete eine israelische Rakete den Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah. Diplomaten wären überrascht gewesen, erklärt Steinberg, aber da Israel immer klar gesagt habe, dass die größte Gefahr für die nationale Sicherheit die Hisbollah und die Organisation nach den Pager-Attacken gerade geschwächt gewesen sei, sei die Fortführung der Angriffe nur logisch gewesen. "Wie naiv ist westliche Diplomatie, dass sie glaubt, Israel würde eine Feuerpause einlegen?", fragt er. "Die israelische Regierung hat ganz schlicht gelogen."

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Baerbock merkt an, dass auch die Hisbollah weiter Raketen auf Israel abgefeuert hätte und die Diplomatie seit zwölf Monaten versucht, die Organisation hinter die Pufferzone im Südlibanon zu bewegen. Und immerhin sei man an einem bisher nie dagewesenen Punkt, an dem arabische Länder gemeinsam mit Deutschland und den USA erklären, dass sie für die Sicherheit Israels einstehen wollen.

Doch so wirklich viel Hoffnung strahlt am Ende niemand am Tisch bei "Caren Miosga" aus, wenn es um die Zukunft im Nahen Osten geht. Das haben die Diskutanten mit den Millionen von Menschen in der Region gemein, die von einem sicheren, ruhigen Leben ohne Angst und Tod träumen. In Israel und Gaza, im Westjordanland, im Iran und im Libanon werden diese Träume wieder einmal nicht wahr, weil der Krieg die Politik des Nahen Ostens formt und weiteres Leid zu erwarten ist. Das von Annalena Baerbock angesprochene "Drehbuch des Terrors", er scheint momentan doch aufzugehen.

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