Erst explodieren Tausende Pager und Funkgeräte im Libanon, dann zielt Israel mit einem Luftschlag auf die Hisbollah-Führung. Die Miliz steht unter Druck. Ist eine große Eskalation noch zu vermeiden?
Elf Monate bereits beschießen sich Israel und die Hisbollah im Libanon nahezu täglich. Es ist eine ständige Abfolge wechselseitiger Angriffe entlang der libanesisch-israelischen Grenze: Feuert die Hisbollah Raketen auf den Norden Israels, antwortet Israel mit Luftschlägen zumeist im Süden des Libanon - und umgekehrt. Auf beiden Seiten wurden dabei Menschen getötet, Zehntausende Einwohner auf beiden Seiten der Grenze mussten das Gebiet verlassen. In einen umfangreichen, offenen Krieg artete der Beschuss trotz allem bislang nicht aus.
Bislang - denn diese fragile Balance wurde diese Woche durch mehrere israelische oder Israel zugeschriebene Angriffe im Libanon auf eine harte Probe gestellt. Erst explodierten am Dienstag im Libanon Tausende Pager, am Mittwoch dann Dutzende Funkgeräte, die Hisbollah-Mitglieder zur Kommunikation nutzten. Am Freitag griff das israelische Militär ein Treffen von Hisbollah-Mitgliedern in einem Vorort von Beirut an - zwei siebenstöckige Gebäude kollabierten dabei.
Insgesamt wurden bei den Vorfällen mindestens 85 Menschen getötet und mehr als 3.000 verletzt. Die Hisbollah bestätigte den Tod ihres Militärkommandeurs Ibrahim Akil, israelischen Angaben zufolge verlor sie insgesamt 16 Kommandeure aus ihrer Führungsriege allein bei dem Angriff am Freitag. Welche Folgen haben die israelischen Angriffe?
Die Folgen für die Gefechtsbereitschaft der Hisbollah:
Hunderte Hisbollah-Mitglieder dürften mit den Explosionen der technischen Geräte in den vergangenen Tagen außer Gefecht gesetzt worden sein. Selbst Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah gestand ein, diese hätten der Miliz einen herben Schlag verpasst. Beobachter allerdings sehen die Miliz nicht als handlungsunfähig. Laut Mohanad Hage Ali vom Carnegie Middle East Center ist die Hisbollah keine zentralisierte Organisation. Vielmehr würden ihre Einheiten, ähnlich wie die der Hamas im Gazastreifen, autonom Angriffe gegen Israel ausführen.
Ein der Hisbollah nahestehender Analyst sagt, die Hisbollah müsse sich nach den schweren Schlägen nicht neu sortieren. Sie sei weiter kampfbereit, die Angriffe hätten "keinen Einfluss" auf die Sicherheits- und die Militärinfrastruktur gehabt, so Kassim Kassir.
Die direkten Folgen der Angriffe - wie reagiert die Hisbollah:
Experten sehen die Hisbollah unter Zugzwang. Hisbollah-Chef Nasrallah erklärte am Donnerstag, die Angriffe kämen einer Kriegserklärung gleich, Vergeltung sei garantiert. Der Analyst Kassir bewertet die Lage als durchaus kritisch. "Wir stehen vor einer offenen Eskalation und alles ist möglich", sagt er.
Auch Hage Ali sieht die Notwendigkeit einer Reaktion der Hisbollah. Seiner Ansicht nach jedoch stehen die Zeichen trotz allem insgesamt auf "Konfliktvermeidung", so der Nahostexperte. "Ich bezweifle, dass die Hisbollah in einer Weise reagiert, die eine größere israelische Operation auslösen wird", sagt er. Die Miliz wolle der Regierung in Jerusalem in diesem Moment keinen Vorwand liefern.
Zuletzt, nach der Tötung des hochrangigen Hisbollah-Führers Fuad Schukr durch Israel Ende Juli, habe die Hisbollah Hunderte Raketen auf Israel abgefeuert, die großteils abgefangen worden seien, sagt Hage Ali. Die Hisbollah könnte nun ähnlich reagieren, etwa mit Angriffen in der Nähe von wichtigen Militärbasen. Am Morgen erst teilte die Miliz mit, sie habe ein israelisches Rüstungsunternehmen und den israelischen Militärstützpunkt Ramat David, beides nahe der Hafenstadt Haifa, angegriffen als Reaktion auf die "wiederholte israelische Aggression in verschiedenen Regionen des Libanon". Große zivile Ziele scheint sie bei ihren Attacken weiterhin zu vermeiden.
Die Folgen in Israel:
Nach den folgenschweren Versäumnissen der Geheimdienste und des Militärs, die das Hamas-Massaker am 7. Oktober nicht vorhergesehen hatten, betrachten vielen Menschen in Israel die jüngsten Angriffe im Libanon als lang ersehnten Erfolg.
Andere kritisieren dagegen, dass sie etwa den rund 60.000 aus dem Norden vertriebenen Israelis nichts nützten und Israel stattdessen dringend ein Abkommen im Gaza-Krieg mit der Hamas schließen müsse. Dieses würde sehr wahrscheinlich auch den Konflikt im Norden mit der Hisbollah befrieden, die eigenen Angaben nach in Solidarität mit der Hamas Raketen seit Beginn des Gaza-Kriegs auf den Norden Israels schießt. Im Südlibanon wurden durch Kämpfe etwa 90.000 Menschen aus ihren Wohnorten vertrieben.
Israel besitzt nachrichtendienstlich und technologisch einen großen Vorsprung vor der Hisbollah. Das Land gilt auch militärisch als überlegen. Einige Stimmen in Israel pochen auf einen begrenzten Einsatz von Bodentruppen im Südlibanon, um eine Pufferzone zu etablieren und die Hisbollah von der Grenze zurückzudrängen. Manche Beobachter in Israel warnen jedoch, dass die Armee den viel kleineren Feind Hamas im Gazastreifen bislang nicht besiegt habe und ein zweiter Krieg Militär und Bevölkerung erschöpfen könnte. Ob israelische Bodentruppen die Angriffe der Hisbollah auf Israel stoppen würden, sei zudem fraglich.
Die Folgen einer weiteren Eskalation für den Libanon und Israel:
Der Libanon steckt in der schlimmsten Wirtschaftskrise seiner Geschichte, die politische Führung des Landes ist schwach, seit zwei Jahren gibt es keinen Präsidenten. Ein möglicher offener Krieg der Hisbollah mit Israel würde das Land in eine noch tiefere Krise stürzen. Die Hisbollah agiert wie ein Staat im Staate und hat großen politischen Einfluss. In den von ihr kontrollierten Gebieten hat der libanesische Staat wenig Handhabe. Dazu zählt auch der Süden des Libanons.
Beobachter warnen, dass ein großangelegter Krieg im Libanon wie in Israel viele Opfer und erhebliche Zerstörung bringen würde, so wie vielleicht niemals zuvor.
Deshalb sind auch viele Entscheidungsträger in Israel dem Vernehmen nach bislang gegen einen großen Einsatz israelischer Truppen im Nachbarland, über den seit den Angriffen der vergangenen Tage wieder vermehrt spekuliert wird. Auch, weil das Land Berichten zufolge Waffenembargos und andere internationale Sanktionen fürchtet.