Erstmals wird der Deutsche Preis für Schallplattengeschäfte vergeben. Was ein Abend mit der schrulligen Branche und Claudia Roth über den Zustand der Gesellschaft verrät.
Es ist sonnig, aber kalt in Köln. Erster Adventssonntag. Grob geschätzte 300 Menschen haben sich eingefunden, im Saalbau Rheinterrassen. Mittendrin Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne). Sie spricht mit allen, die an ihr vorbeigehen, umarmt manche. Keine Sicherheitsleute zu bemerken, kein Mitarbeitertross. Die einstige Managerin der Politrock-Band "Ton Steine Scherben" ist auf ureigenem Terrain: unter Musik-Enthusiasten. Etwas schrill, ein Hauch nerdig. Szene statt Gala.
Ein Preis für Begegnungsstätten
Verliehen wird der Emil. Erstmals. Eine Auszeichnung für die besten Schallplatten-Fachgeschäfte des Landes, namentlich angelehnt an Emil Berliner, Ingenieur aus Hannover, der die meist schwarzen Tonträger-Scheiben anno 1887 patentieren ließ. Organisiert hat den Preis der Verband unabhängiger Musikunternehmer und -unternehmerinnen, kurz VUT. Ausgezeichnet wurden gleich ein gutes Dutzend beste Plattenläden, landauf, landab. Was zeigt, dass es beim ersten Emil nicht so sehr um Wettbewerb, sondern um Würdigung geht. Die 15.000 bis 25.000 Euro Preisgeld helfen sicher, denn reich werde man mit dem Betrieb eines Plattenladens nicht, wie alle Preisträger betonen. Einen ganz gewöhnlichen Einzelhandel betreibe man ja nicht. Eher eine Art Begegnungsstätte für Kulturaustausch. "So wichtig in diesen finsteren Zeiten", findet Claudia Roth. Die VUT-Vorsitzende Birte Wiemann schlägt denn auch einen Deckel für Ladenmieten und Steuererleichterungen vor. Applaus der Szene, aber wohl wenig realistisch.
Später, bei Chili con und sin carne und deutlich höherer Wein- als Kölsch-Nachfrage, werden die Gespräche lebensnäher. Die Angst vor dem Gang zum Sozialamt in Corona-Zeiten. Nahezu alle in der Szene, auch die Ladenbetreiber, haben mehrere Standbeine. Das ewige Balancieren des Kontos zwischen dem Eingang eines Honorars, irgendeines Umsatzes aus irgendwas Getanem und den ständig steigenden Kosten. Über euphorische Momente in der schieren Ohnmacht gegenüber all diesen vielen Zeitenwenden. Und, dass es angesichts von Amazon und Spotify irgendwie märchenhaft sei, dass es heute einen wieder erstarkten, technisch gar innovativen Vinyl-Sektor in der Musikindustrie gibt. Gemacht und getragen allein vom Publikum, von Musikwertschätzenden. Nicht von Marketing.
Um die 550 Plattenläden gibt es derzeit in Deutschland. Rang vier weltweit hinter den USA, Großbritannien und Japan. Gut 2,2 Milliarden Euro setzte die Musikindustrie im Jahr 2023 hierzulande um, gut sechs Prozent davon in Schallplatten. Das ist zwar der kleinste Anteil, aber der einzige, der neben Streaming seit Jahren kontinuierlich wächst.
Comeback der Schallplatte im Kulturkampf
Von diesem "Comeback" spricht auch Claudia Roth. Flammend ihr Plädoyer: Eine Würdigung der Kunst, der Kultur, als erlebbares, vielleicht wichtigstes gesellschaftliches Bollwerk gegen die "Feinde der Demokratie", im "Kulturkampf". Kulturförderung, sagt sie, sei daher wichtiger denn je. Sie beschreibt den Disput darüber mit manchen Finanzpolitikern, lobt und bedankt sich für das oft nur knapp lebensunterhaltende Tun der Kreativwirtschaft. Heute wie damals mit den "Scherben". Kurz tränenringend. Eine kulturpolitische Grundsatzrede, die Claudia Roth qua Amt hält, anlassgegeben auch so halten sollte, die aber im Deutschen Bundestag wuchtiger geklungen hätte.
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"The time to hesitate is through", ruft Roth der Szene zu. Eine Textzeile aus "Light my fire" von der US-Band The Doors, erschienen 1967, ihre erste eigene Schallplatte. Auch ein Absetzen von den Eltern, die Ella Fitzgerald und die Beatles hörten, wie sie erzählt. Die Zeit des Zögerns ist durch, frei nach den Doors. Um Demokratie und für eine offene Gesellschaft müsse man jetzt mehr denn je kämpfen. Es klingt wie das politische Vermächtnis der Claudia Roth. Zur Bundestagswahl wird die stets streitbare 69-Jährige nicht mehr als Spitzenkandidatin der bayerischen Grünen antreten.
Am nächsten Morgen ist es in Köln draußen so, wie es drinnen beim ersten Emil-Preis war: zehn Grad wärmer. Gefühlt mild. Aber dicht bewölkt.