Das schwarz-blaue Schreckgespenst mobilisiert die SPD. Aber was, wenn das nicht reicht, das erhoffte Momentum ausbleibt – und Friedrich Merz trotzdem als Sieger ins Ziel geht?
Friedrich Merz sei "aus der politischen Mitte" ausgebrochen, empört sich SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, schon am Vortag habe er davor gewarnt. Vergebens: Die Union hat ihren Antrag zur Migrationspolitik am Mittwoch tatsächlich im Parlament durchgeboxt, vorbei an der rot-grünen Minderheitsregierung, und eine Mehrheit auch mit Stimmen der AfD erzielt. Ein Präzedenzfall, der am Freitag eine Fortsetzung finden könnte: Dann will die Union über einen Gesetzentwurf abstimmen lassen, erneut in dem Wissen, dass die Rechtspopulisten das Zünglein an der Waage sein könnten.
Die Frage ist: Was bedeutet das alles für die Sozialdemokraten?
Wer in die Partei hineinhorcht, bekommt darauf unterschiedliche Antworten. Auffällig: Allzu viel Wind unter die Schwingen versprechen sich nur wenige Genossen für den eigenen, doch eher schleppend verlaufenden Wahlkampf. Stattdessen könnte sich ein mögliches Dilemma anbahnen.
"Das Agieren der Union hat die SPD massiv motiviert"
SPD-Fraktionschef Mützenich wähnt das Land am 23. Februar vor einer Richtungswahl. Dann entscheide sich, ob die Wähler das Merz-Manöver als "Fehler einer unverantwortlichen Politik" abstraften oder die "Rutschbahn" noch weitergehe. "Wir werden alles dafür tun, dass es nicht so ist", sagt Mützenich.
Die Botschaft ist klar: Die Kanzler-Partei stehe stabil, nicht zuletzt als verlässliches Bollwerk gegen die extremen Rechten, und versündige sich nicht an demokratischen Gepflogenheiten. "Mitte statt Merz" lautet der Slogan, den die SPD-Kampagne prompt in die Welt setzte und der sich in den Köpfen festsetzen soll. Allerdings, das schwingt in Mützenichs Aussage mit: Die Wähler könnten ebenso die "Rutschbahn" bevorzugen.
Zwar mobilisiere das schwarz-blaue Schreckgespenst sowohl die Partei als auch potenzielle Wähler der Sozialdemokraten, erzählen Genossen. Als die Abstimmungsergebnisse im Bundestag verlesen wurden, ging ein regelrechter Ruck durch die SPD-Fraktion, ein Energieschub, neuer Kampfgeist. Aber reicht das, um zur Union aufzuschließen?
Kommentar Merkels Affront 12:14
"Die SPD steht weiterhin in der politischen Mitte und wird sie verteidigen, das Agieren der Union hat die Partei massiv motiviert und zusammengeschweißt", betont Tim Klüssendorf, Sprecher der SPD-Linken und Bundestagsabgeordneter aus Lübeck. Am Mittwoch sei etwas passiert, das nicht hätte passieren dürfen. Die Union habe Stimmen der AfD "bewusst" in Kauf genommen und sich damit von der politischen Mitte entfernt, "die sich gemeinsam darauf verständigt hatte, sich von den Extremisten klar abzugrenzen". Klüssendorf zum stern: "Diese Vereinbarung hat die Union nun einseitig aufgekündigt."
Ausweislich der aktuellen Umfragelage liegt die SPD aber nicht einmal in Schlagdistanz zur Union, schon seit vielen Monaten, mit Kanzler Olaf Scholz als Schlusslicht unter allen Kanzlerkandidaten. Hinzu kommt, dass schon bei der Europawahl im vergangenen Jahr die Brandmauer-Rhetorik der SPD nicht verfangen wollte, ebenso wenig der Versuch, ihren Kanzler als letzten verantwortungsvollen Staatsmann in turbulenten Zeiten zu positionieren. Die SPD fuhr ein katastrophales Ergebnis ein.
Friedrich Merz: Kann der Kanzler, darf der Kanzler?
Zwar wird der SPD-Erzählung nun neuer Sauerstoff zugeführt, sogar ohne großes eigenes Zutun: Altkanzlerin Angela Merkel kritisiert in bemerkenswerter Deutlichkeit ihren Parteifreund Friedrich Merz und vor allem seinen Kurs, auch AfD-Stimmen in Kauf zu nehmen. Erste CDU-Ministerpräsidenten gehen auf Distanz. Allerdings bleibt abzuwarten, ob dadurch die Umfragekurve für die SPD tatsächlich nach oben geht und das frische Motiv für den Wahlkampf auch in ein Momentum umschlägt.
Denn in der SPD geht die Sorge um, dass der Unions-Kanzlerkandidat Merz einen Nerv in der Bevölkerung getroffen haben könnte. Laut einer Insa-Umfrage für die "Bild"-Zeitung kann sich sogar einer Mehrheit der SPD-Wähler (56 Prozent) hinter dessen Vorschlag versammeln, Migranten ohne Papiere und Asylsuchende an allen deutschen Grenzen abzuweisen. Obwohl Merz' schneidigen Asylpläne mindestens politisch, aber auch juristisch heikel sind – und in der Kompromisslosigkeit, wie der CDU-Chef sie propagiert, wahrscheinlich nicht umsetzbar.
Größte Profiteurin möglicherweise: die AfD. Schon der gemeinsame Abstimmungserfolg mit der Union habe die Populisten aufgewertet, ein Stück weit normalisiert, heißt es in der SPD. "Wir müssen leider zur Kenntnis nehmen", sagt SPD-Politiker Klüssendorf: "Das Tabu, gemeinsam mit den Rechtspopulisten Mehrheiten zu bilden, gibt es so nicht mehr."
Hauptverantwortlich dafür ist aus Sicht der Sozialdemokraten Friedrich Merz, der mit seinem Kurs die Büchse der Pandora geöffnet habe – für Stadträte, Landräte, im Zweifel auch für Abstimmungen im Bundestag. Kann der Kanzler, darf der Kanzler?
Vielen in der SPD fehlt nach der Abstimmung am Mittwoch zunehmend die Fantasie, im Zweifel den CDU-Chef zum Kanzler zu wählen. Sollte eine Große Koalition unter Führung der Union die einzige Option nach der Wahl sein, würde das die Sozialdemokraten massiv unter Druck setzen.
Führende Sozialdemokraten halten zwar tapfer das Narrativ hoch, dass ja der Wählerwille entscheide, wer mit wem zusammengehe. Doch könnte der Weg in eine mögliche GroKo mit sehr harten Verhandlungen verbunden sein. Die schlimmstenfalls, wie in Österreich, zum Abbruch der Gespräche führen – und zum Erstarken der Populisten.