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Meinung: Warum ich mich heute für Amerika schäme



Gut, dass Donald Trump und Wolodymyr Selenskyj ihren Streit vor offenen Kameras ausgetragen haben. Nun hat auch der Letzte verstanden: Der mächtigste Mann der Welt ist ein Wahnsinniger.

Lieber Mister Präsident, 

gehen wir ein bisschen spazieren. Vergessen wir mal Ihr Amt und tun so, als wären wir zwei stinknormale Leute. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.

Pink hat das geschrieben, die amerikanische Popsängerin. 2006, als der Mister Präsident noch George W. Bush hieß. In einem zur Generalanklage ans Weiße Haus vertonten Hit. Ich muss dieser Tage unweigerlich an ihre alten Zeilen denken. Auch ich hätte ein paar Fragen an den derzeitigen US-Präsidenten ("Was ist mit Ihnen los?"). Auch ich würde Donald John Trump gerne auf Augenhöhe begegnen (zu seinen 1,90-Maßen fehlen mir nur vier Zentimeter). Doch dann fällt mir wieder ein: Wie verdammt soll man mit jemandem spazieren gehen, mit dem man sich noch nicht einmal anständig an einen Tisch setzen kann? 

Mit einer Sache hatte Donald Trump recht

Auch wenn es inzwischen fast alle gesehen haben dürften, muss man es noch einmal ausbuchstabieren, weil es so wahnsinnig ist: Der Anführer des freien Westens Donald Trump hat den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vor den Augen der Weltöffentlichkeit gemaßregelt wie einen Schüler, der vor seiner Klassenfahrt nach Washington vergessen hat, brav alle Hausaufgaben zu machen. Er hat dem Regierungschef eines angegriffenen Landes vorgeworfen, einen Dritten Weltkrieg vom Zaun zu brechen, sich darüber lustig gemacht, dass er keinen Anzug trägt, sondern kämpferisch anmutende Langarmshirts. Er hat genau eine richtige Sache gesagt: "Es ist gut, dass die Amerikaner sehen, was hier vor sich geht." 

Es ist gut, dass nicht nur die Amerikaner, sondern die ganze Welt gesehen hat, was hier von sich geht. Denn hätte es noch irgendeinen Beweis dafür gebraucht, wie Trump, der selbsternannte Dealmaker, das Dealmachen tatsächlich begreift – hier war er, live und in Farbe. Dinge, die sonst in Hinterzimmern besprochen werden, dankenswerterweise für alle ersichtlich ausgeleuchtet. 

Da saß also der mächtigste Mann der Welt und sprach über Krieg und Frieden, als wäre es ein Pokerspiel. "Sie haben die Karten nicht", kläffte er Selenskyj an, wohl wissend, dass er selbst zwei Asse in der Hand hat: eine starke Wirtschaft und das größte Militär der Welt. Trump missbraucht die Stärke seines Amtes für eine Friss-oder-Stirb-Diplomatie. Er ändert die Spielregeln der Weltpolitik. Er kann Selenskyj per Social-Media-Post noch so oft auf den Nachhauseweg geben, doch nur "FRIEDEN" zu wollen. Ihm geht es nicht um Frieden. Trump geht es darum, dass er derjenige ist, der den Frieden, er würde sagen: den Deal, verhandelt hat. Wie der dann genau aussieht – egal. 

Die USA: Vom großen Bruder zum Problemkind

Sie werden es gemerkt haben, liebe Leserinnen, liebe Leser, aus diesen Zeilen trieft die Verachtung. Ich habe mich immer als überzeugten Transatlantiker begriffen, habe in Washington studiert, habe die erste Trump-Amtszeit abgetan als vierjährige Schockkur für Amerika, habe – während ich diese Zeilen schreibe – hinter mir im Bücherregal ein mit Eselsohren durchzogenes Exemplar von Hillbilly Elegy stehen, dieser grandiosen Autobiografie dieses so ungrandios gewordenen J.D. Vance. 

Wie ein Schoßhund saß Vance während des Eklats neben Trump, brav nickend, er fragte Selenskyj viermal, in verschiedener Ausführung: "Haben Sie einmal Danke gesagt?" Das in etwa ist das infantile Niveau, mit dem im Weißen Haus jetzt gesprochen wird. 

Ich hatte ehrlicherweise Probleme, mir dieses Video in einem Rutsch anzusehen. Zweimal musste ich abbrechen. In mir pochte die Fremdscham. 

Die USA waren für uns wie ein großer Bruder. Er trat manchmal etwas zu breitbeinig auf und machte Ärger, aber man konnte sich auf ihn verlassen. Das gilt nun nicht mehr. Mit Trump sitzt ein 78-jähriger Problembär im Oval Office. Und leider haben wir noch immer keinen richtigen therapeutischen Ansatz für ihn gefunden. Mit einem klärenden Spaziergang, wie Pink ihn sich einst vorstellte, wird es nicht getan sein. 

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