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Kolumne: Früher liberal, jetzt radikal? So crazy ist die Jungwähler-Statistik



Statt grün wählt die Jugend jetzt links? Und statt liberal plötzlich ganz rechts? stern-Kolumnist Florian Schroeder wundert sich über die Aufregung: alles bloß Statistik.

Nach dieser Bundestagswahl ist Deutschland gespaltener denn je – und zwar in Alt und Jung.

Fangen wir, auch aus Respekt, bei den Alten an. Fast jeder fünfte Deutsche ist über 60 Jahre alt, das mag erklären, warum auch diejenigen, denen wir den Aufbruch zutrauen, zumindest gefühlt steinalt sind. Sie sind recycelte oder anderweitig wiederaufgetaute Politmumien von gestern. 

Die Frage ist: Wann kommt Roland Koch (102) zurück und wann Günther Oettinger (Alter unbekannt)? Dürfen wir uns bald wieder auf zehnminütige Stoiber-Parodien auf deutschen Kabarettbühnen freuen? Fakt ist: Die Politik, die das demografische Problem lösen soll, hat selbst ein demografisches Problem. Die 90er haben angerufen und wollen ihre Politiker zurück.

Und damit sind wir bei dieser verrückten Jugend. Da ignorieren die eben genannten Haudegen und ihre Gefolgsleute jahrelang junge Menschen, investieren möglichst wenig in Bildung und Schulen, blenden langfristige Entscheidungen für den Erhalt des Klimas und einer zukunftsfähigen Infrastruktur aus – und dann werden sie nicht mehr von jungen Menschen gewählt? Undankbares Pack! Schlawiner! Strauchdiebe!

Steuern nur noch für Elon Musk

Ja, junge Menschen wählen extrem. Die einen extrem links, die anderen extrem rechts. Sie denken eben vor allem an sich: entweder an ihren Geldbeutel – da ist die Linke die einzige Partei, die ihnen etwas verspricht: nur noch Steuern für Elon Musk. Oder sie pflegen ihren Hass auf alle Menschen – da macht die AfD recht gute Angebote: nur noch Party mit der Kettensäge.

Bei der letzten Bundestagswahl waren es Grüne und FDP, die bei jungen Wählern hoch im Kurs standen, heute sind es Linke und AfD. Die leichteste Schlussfolgerung wäre vermutlich: Wenn nun ab heute AfD und Linke so regieren würden, wie FDP und Grüne es die letzten Jahre getan haben, wären die Erstwähler 2029 vermutlich beim "Dritten Weg" und der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands.

Aber so wird es nicht kommen, denn zwischen zwei Wahlen liegen in der Regel dreieinhalb bis vier Jahre. Um es mit dem ehemaligen Bundeskanzler Karl Lagerfeld zu sagen: "Jugend ist ein Mietvertrag, der nicht verlängert wird." Vier Jahre können eine verdammt lange Zeit sein, wie wir seit Merkels Kaugummi-GroKo-Jahren wissen. Und wer einmal erlebt hat, wie sich zwei Geschwister mit einem Altersunterschied von vier Jahren unterscheiden können, der weiß, dass Zahlen hier Schall und Rauch sind. 

Egal was, Hauptsache radikal und unerbittlich

Es gibt nicht die „jungen Leute“, es gibt eine bestimmte Alterskohorte in einer bestimmten Zeit, die eine mehr oder weniger überraschende Entscheidung trifft. Und vier Jahre später passiert dasselbe – aber dann sind es eben die nächsten "jungen Leuten", die eine mehr oder weniger überraschende Entscheidung treffen. Nur eines bleibt gleich: Die Entscheidung, die junge Wähler dabei treffen, muss radikal und unerbittlich ausfallen, sonst – und eben nur sonst – müsste man sich wirklich sorgen. Insofern haben die Jungwähler einfach nur ihren Job gemacht bei dieser Wahl. Zumal die Gewinne bei der Linken und der AfD genau den Verlusten von Grünen und FDP bei dieser Wahl entsprechen.

Aus der Zeit meiner Jugend, in der das oben genannten Politpersonal schon so alt wirkte, wie es heute ist, stammt ein Hit der leider vergessenen Band Fury in the Slaughterhouse, er hieß "Every generation got ist own disease". Jede Generation hat ihre eigene Krankheit. Und das gilt für die heute 18-24-Jährigen ganz besonders. 

Eine Truppe, die groß geworden ist mit Geflüchtetenkrise 2015, mit Corona, dem Ukraine-Krieg und Straßen-Rap von Capital Bra auf Nummer Eins der Charts. Das ist eine Situation, die nichts rechtfertigt, aber einiges erklärt. Wenn die Gegenwart ewig alternativlos wirkt, dann streckt man als halbwegs aufmerksamer Mensch die Fühler aus nach diesen Alternativen. Ob das uns Mittelalten bis Best Agern nun gefällt oder nicht.

Ein Problem, das übersehen wird: der Kohorteneffekt

Warum sind diese Zahlen nicht besonders aussagekräftig? Dazu ein kurzer Blick auf das als trocken verschriene Fach Statistik. Dort heißt das Problem, um das es hier geht, Kohorteneffekt. Bei den Wahlergebnissen werden immer nur diejenigen berücksichtigt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt 18 Jahre alt sind. Wer im Jahr 2015 achtzehn Jahre alt war, hatte eine andere Jugend mit anderen Herausforderungen und Möglichkeiten als jemand, der 2025 so alt war. 

Um wirklich eine Aussage treffen zu können über das Wahlverhalten einer bestimmten Kohorte, müsste man sie über viele Jahre, ja Jahrzehnte, beobachten. Das singuläre Geschrei darüber, was bestimmte Jahrgänge in einem Moment wählen, sagt rein gar nichts aus. Weder über die Wähler, noch über ihre Zukunft und am allerwenigsten über den Zustand des Landes.

Ich, als 1990er-Jahre-Teenie, durfte zum ersten Mal 1998 wählen. Ich wurde groß im Jahrzehnt von Fury in the Slaughterhouse. Im Jahrzehnt von Tamagotchi und Arschgeweih, im Fernsehen liefen Baywatch und Al Bundy. Dass aus mir nochmal ein Demokrat werden würde, ist auch eher ein kleines Wunder.

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