Zu Beginn des russischen Angriffskrieges glaubte stern-Autor Moritz Gathmann an einen Sieg der Ukraine. Heute sieht er nur einen Ausweg, damit das Sterben aufhört: Verhandlungen.
Der Krieg begann für mich mit zwei dumpfen Einschlägen morgens um 6 Uhr in einem Hotelbett in Kramatorsk. Der erste weckte mich, ich öffnete die Augen und fragte mich, ob ich das geträumt hätte.
Dann kam der zweite Einschlag.
Ich war hellwach und weckte meine Kollegin. Zwei russische Raketen hatten den Militärflugplatz nahe der Stadt getroffen.
Der russische Großangriff auf die Ukraine hatte begonnen, allem Wunschdenken zum Trotz, an dem meine Kollegen und ich uns noch am Abend zuvor festgehalten hatten: Vielleicht würde Putins Angriff auf den Donbas begrenzt bleiben, vielleicht sei das alles nur Säbelrasseln, um die Ukraine und den Westen zu Zugeständnissen zu zwingen? Nein, Putin wollte es wissen, wollte in die Geschichte eingehen wie Peter der Große, koste es, was es wolle.
Meine russischen Freunde träumten von so viel und nie vom Krieg
Für mich brach mit diesen dumpfen Einschlägen bei Kramatorsk eine Welt zusammen. Ich hatte mich, seit ich in der Schule Russisch gelernt hatte, dem Brückenbauen verschrieben. Seit dem Studium hatte ich viele Länder bereist, in denen man mit Russisch gut klarkam: Neben Russland den Südkaukasus, Belarus, die Ukraine, später auch Zentralasien. Den Menschen dort erklärte ich die Deutschen mit all ihren Absonderlichkeiten, den Deutschen die so unterschiedliche Weltsicht der Menschen in den Ländern, die aus dem Koloss Sowjetunion hervorgegangen waren.
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Und trotz aller Unterschiede, trotz des autoritären Abrutschens mancher Regime, allen voran Russland und Belarus, trotz der ersten russischen Aggressionen gegen die Ukraine ab 2014, schien es bis zuletzt so, als könne man den Zug der Geschichte doch auf den Gleisen halten – hin zu Verständigung, wenn schon nicht Einigung. Wie viele Freunde hatte ich in Russland, die mir so ähnlich waren, mit denen ich durch Berlin, Moskau und St. Petersburg gezogen war, die von sehr vielem träumten, aber ganz und gar nicht von einem Krieg gegen die "Nato-Faschisten"?
Doch Putin hatte andere Pläne, und er hatte genug Menschen, die ihm folgten. Er war es, der die Brücken einriss, die viele Menschen über Jahrzehnte auf beiden Seiten gebaut hatten. Vergeblich wartete ich darauf, dass die Russen selbst ihn dabei aufhielten. Vielleicht hatte ich auch zu lange die Augen davor verschlossen, wie sehr Putin die Russen auf diesen Moment vorbereitet hatte.
Nichts wünschte ich mir in diesen ersten Monaten deshalb mehr, als dass dieser Krieg mit einer krachenden Niederlage Russlands enden würde, einem schmachvollen Ende Putins, einer gerechten Strafe für seine menschenverachtende Machtpolitik. Ein Ende Putins hätte auch das Ende seines Adlaten Alexander Lukaschenko im Nachbarland Belarus bedeutet, der seit 2020 brutal wie nie gegen jegliche Opposition vorging.
Damals schrieb ich von meiner Hoffnung auf eine "Stunde Null" für Russland, also einer ähnlichen Situation, aus der Deutschland nach 1945 neu beginnen musste: ein Zusammenbruch des alten Systems, dann ein (mühsames, langjähriges) Überdenken der Fehler, die das Land und seine Gesellschaft in die Katastrophe geführt hatten, und der Aufbau eines Systems, das diese Fehler künftig vermeiden würde.
Ich blickte lange in das bleiche Gesicht des Toten
Das Jahr 2022 machte zunächst Hoffnung: Der Westen, insbesondere Deutschland, arrangierte sich – anders als von Putin erhofft – nicht auf Kosten der Ukraine mit Putin. Und die ukrainische Armee, gestützt von einer Gesellschaft, die sich angesichts der existenziellen Bedrohung konsolidierte wie nie seit der Erlangung der Unabhängigkeit, fügte den Russen schmerzhafte Niederlagen zu.
Im Herbst 2022 war ich dabei, als die Ukrainer die russische Armee aus dem Gebiet Cherson vertrieb. Ich erinnere mich an den getöteten russischen Soldaten, der auf der Landstraße Richtung Cherson lag. Ich blickte lange in sein bleiches Gesicht. Und dachte: Was zum Teufel hat dich dazu gebracht, hierher zu kommen? Du könntest jetzt friedlich in deinem Wohnzimmer in Krasnojarsk oder Pensa sitzen, stattdessen liegst du hier tot auf einer Straße in der Südukraine. Ich empfand kaum Mitleid, dafür große Genugtuung: Der Aggressor bekam seine gerechte Strafe.
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Kurz darauf folgte die Befreiung des Gebietes Charkiw, und die Ukrainer fieberten erwartungsvoll dem Jahr 2023 entgegen, der Fortsetzung der Gegenoffensive. Ich fieberte mit. Und sah zugleich die großen Opfer, die die Ukrainer erbrachten: Im Winter traf ich mich mit Ihor, einem Soldaten, den ich in einem Flüchtlingszug mit Frau und Kindern kennengelernt hatte. Er hatte sie bis zur Grenze gebracht, dann war er in den Krieg gezogen.
Ihor erzählte mir die Vorgeschichte dessen, was ich in Cherson als Durchmarsch erlebt hatte: Monatelange Stellungskämpfe, in denen sein Bataillon mehrfach aufgerieben wurde – und mit neuen Soldaten aufgefüllt werden musste. Aber auch er war überzeugt, dass die Opfer nicht umsonst waren: Jetzt, 2023, würde man die Russen endgültig aus dem Land werfen. Umfragen zufolge war die Hälfte der Ukrainer überzeugt, der Krieg würde in diesem Jahr enden. Selenskyj hatte zu Jahresbeginn die Devise ausgegeben: Sie hieß Sieg.
Doch nicht der Frühling, nicht der Sommer, und auch nicht der Herbst brachten den erhofften Sieg. Stattdessen stand ich auf Friedhöfen, in denen Dutzende blau-gelbe Flaggen über frischen Gräbern im kalten Wind knatterten, saß in Küchen schluchzender Witwen, die ihre Männer begraben hatten.
Das Jahr 2023 endete für die Ukrainer in tiefer Depression, und mich zog sie mit sich. Ich forderte in einem Kommentar für den Deutschlandfunk ein Ende der Illusionen: Einen Abnutzungskrieg könne ein Volk von 30 Millionen gegen ein Land mit 145 Millionen nicht gewinnen.
Ich würde die Ukraine verraten, wurde mir vorgeworfen
"Die Wahrheit ist: Dieser Krieg wird mit einem Unentschieden enden, mit einem Einfrieren der Frontlinie und einer ausgeklügelten politischen Formel zur Frage, welchen Status die von Russland besetzten Gebiete haben", schrieb ich. Und erntete wütende Kommentare der Ukraine-Unterstützer. Ich würde die Ukraine verraten, wurde mir vorgeworfen. Die Ukraine brauche einfach mehr und bessere Waffen, Russland müsse noch stärker sanktioniert werden, dann sei ein Sieg möglich.
Im Winter saß ich am Schreibtisch und verzweifelte. Verriet ich die Ukraine? Sollte ich nicht lieber die Fahne hochhalten, in meinen Kommentaren von Scholz mehr Waffen fordern, die dann den Sieg näher brächten? Schwächte ich damit, dass ich öffentlich den ukrainischen Sieg infrage stellte, nicht die ohnehin bröckelnde Unterstützungsbereitschaft der Deutschen? Beschrieb ich als Reporter nur die Wirklichkeit – oder beeinflusste ich sie?
Die Ukrainer kämpfen verbissen – doch die Übermacht der Russen ist erdrückend
Eine Weile lang wusste ich nicht mehr, was ich überhaupt noch zur Ukraine schreiben sollte. Aber ich merkte, wie meine Wut auf die Experten wuchs, die weit weg von der nassen Erde der ukrainischen Heldengräber und den Küchen der Witwen auf den Sofas der Talkshows noch immer vom ukrainischen Sieg erzählten. Oder in ihren Universitätsstuben ausrechneten, wann Russland den Krieg verloren haben würde.
Seitdem ist ein Jahr vergangen. Die Ukrainer verteidigen sich verbissen, aber verlieren gegen die russische Übermacht doch jeden Tag an Boden. An der Konstellation hatte sich bis zuletzt nichts geändert: Der Westen gab der Ukraine gerade genug, um sich gegen den Aggressor zu wehren. Und ein militärischer Sieg bleibt in diesem Abnutzungskrieg ein Ding der Unmöglichkeit.
Gesetze der Mathematik lassen sich mit guten Worten nicht aushebeln.
Als Licht am Ende des Tunnels erscheint: Donald Trump
Bei meiner letzten Reise traf ich Soldaten, die mir erzählten, dass sie nur noch wie Roboter zur Arbeit in den Schützengraben gehen. Der Patriotismus sei schon lange aufgebraucht. "Nur noch der Gedanke, dass ich auf diese Weise verhindere, dass der Krieg zu meiner Frau und meinem Kind in der Zentralukraine kommt, hält mich am Leben", sagt einer. Die Stimmung in der ukrainischen Gesellschaft hat ein Plateau auf niedrigem Niveau erreicht: Man erwartet keine guten Neuigkeiten, aber man sieht auch keine Katastrophe kommen. Als Licht am Ende des Tunnels erscheint in dieser Situation: Donald Trump.
Es mag uns absurd erscheinen, aber in der Ukraine wird der kommende US-Präsident Trump als Gamechanger wahrgenommen. "Er ist ein Verrückter, aber mit ihm wird dieser Krieg wenigstens schneller zu Ende gehen", sagt mir heute jener Soldat Ihor. Diesen Abnutzungskrieg, begleitet von guten Worten aus dem Westen über Freiheit und Demokratie, aber ohne Aussicht auf ein Ende, haben Soldaten wie er nach 1000 Tagen satt. Wer will es ihnen verdenken.
Die Hoffnung darauf, dass nach knapp drei Jahren Krieg zumindest ein Einfrieren des Konflikts, ein sogenannter "schlechter Frieden" zustande kommt, ist groß. Bedeutet das, dass wir die Ukraine unter den Bus werfen? Nein, denn von unserer Unterstützung wird es auch in Zukunft abhängen, dass Russland es nicht wieder wagt, die Ukraine anzugreifen. Von der Versorgung der Ukraine mit allem, was sie braucht – und vom Aufbau eigener Resilienz.
Ja, das meint Waffen und Soldaten, damit Putin erst gar nicht auf die Idee kommt, es mit einem Nato-Mitglied aufzunehmen, Trump hin oder her. Und bei aller Hoffnung: Es ist alles andere als ausgemacht, dass es Trump gelingt, Putin an den Verhandlungstisch zu bringen. Vielleicht verliert Trump nach ein paar Versuchen auch die Lust daran, und er wendet sich ab. Dann sind wir Deutschen und Europäer noch mehr als zuvor gefordert.
Putins System ist stabil, die Bevölkerung unterwürfig
Und Russland? Das Land hat riesige Opferzahlen zu verzeichnen, weit höher als jene der Ukraine. Aber zu einer Stunde Null aufgrund einer militärischen Niederlage ist es nicht gekommen. Zu stabil ist das Regime, zu unterwürfig seine Bevölkerung, zu groß die Zahl der Länder auf dem Globus, die Putins Überfall auf die Ukraine nicht daran hindert, mit Russland Handel zu treiben. Und doch gibt es kleine Pflänzchen der Hoffnung: eine russische Oppositionsbewegung, die sich im Ausland organisiert, die am Sonntag in Berlin gegen Krieg und Putin protestierte. Und die sich vorbereitet auf eine Zeit nach Putin. Entgegen aller Hoffnungen dürfte es noch schmerzhaft lange dauern, bis er abtritt. Aber dann, vielleicht, kommt sie wieder. Die Zeit der Brückenbauer.