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Meinung: Der schlafende Riese Europa erwacht



Mit dem EU-Gipfel setzt Europa ein Zeichen, dass es den Ernst der Lage erkannt hat. Auf die Absichtserklärungen muss nun aber etwas folgen, was dem Kontinent oft schwerfällt.

Der polnische Premierminister Donald Tusk gab am Donnerstag wohl am deutlichsten die neue Marschrichtung vor, als er auf dem Sondergipfel in Brüssel von einem "neuen Rüstungswettbewerb" sprach, den Russland diesmal genau so verlieren werde wie die Sowjetunion vor 40 Jahren. "Von heute an wird Europa sich klüger und schneller bewaffnen als Russland."  

Nicht drei Jahre russischen Kriegs gegen die Ukraine haben die Europäer an diesen Punkt gebracht, sondern die harte Landung der vergangenen Wochen; die Erkenntnis, dass weder die real existierenden Vereinigten Staaten unter Donald Trump, noch jene, die danach kommen werden, ihre schützende Hand über uns halten werden wie in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg. 

Jetzt ist klar: Wir stehen gegenüber Putins Russland, in dem die Rüstungsindustrie seit drei Jahren brummend läuft, mit zu wenig da, um abschreckend zu wirken – weder bei der Zahl der Soldaten noch beim Gerät. Wer aber nicht abschreckt, der lädt den Gegner ein, Schwachstellen auszutesten, etwa im Baltikum. 

Europa kann sich nichts mehr sicher sein

Trumps disruptive Strategie geht so weit, dass wir uns nicht einmal mehr sicher sein können, ob die nukleare Teilhabe am US-amerikanischen Atomwaffenarsenal als Pfeiler unserer Sicherheit gegenüber der Atommacht Russland Bestand hat. Bis zuletzt wollte man sich in all jenen europäischen Ländern, die nicht an Russland grenzen, nicht wirklich mit dem Ernst der Lage beschäftigen. Für die Balten und die Polen dagegen war spätestens seit Februar 2022 klar: Bei einem Nachbarn Putin muss man auf das Schlimmste vorbereitet sein.  

Wie schwer sich etwa die deutsche Gesellschaft trotz der massiv veränderten Sicherheitslage mit der Notwendigkeit der Verteidigung tut, bestätigt gerade wieder eine Forsa-Umfrage:60 Prozent der Deutschen wären selbst im Falle eines Angriffs nicht bereit, ihr Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen – nur 17 Prozent wären dazu bereit.  

Aufrüstung: In Deutschland ist das Signal angekommen

Die 800 Milliarden, die von der EU nun für die Aufrüstung freigesetzt werden sollen, die Lockerung der Haushaltsregeln für Investitionen der Mitgliedsländer in Rüstung, eine Aufstockung der Hilfen für die Ukraine, um die ausbleibende US-Unterstützung zumindest teilweise aufzufangen – das sind richtige Schritte. Denn natürlich – wie von Tusk impliziert – sind die Europäer mit einem Bruttoinlandsprodukt von 17 Billionen Euro zu weit mehr fähig als Russland mit einem BIP von weniger als 2 Billionen Euro. Doch fehlte bisher die Erkenntnis, dass es wirklich notwendig ist.  

Ob die EU-Länder, und gerade jene, die weiter entfernt sind von der russischen Grenze, diese Erkenntnis praktisch umsetzen werden, wird sich zeigen: Die Lockerung der EU-Haushaltsregeln für Rüstungsinvestitionen ist nur ein Angebot an die Länder, kein Zwang zur Aufrüstung. In Deutschland, das zeigt der maximale Pragmatismus bei der Lockerung der Schuldenbremse, um mehr Ausgaben für Rüstung zu ermöglichen, ist das Signal angekommen. 

Aber noch viel mehr wird es in nächster Zeit darauf ankommen, in der Praxis endlich einzulösen, was seit Jahren gefordert, aber immer wieder aufgrund nationaler Egoismen ausgebremst wurde: eine weit engere Kooperation bei der Rüstungsproduktion und -beschaffung innerhalb Europas. Das spart unterm Strich übrigens auch Kosten. Denn bislang werden in Europa zu viele Waffensysteme parallel entwickelt und produziert.  

Eine "Koalition der Willigen" kann schneller Entscheidungen treffen

Und möglicherweise muss es nicht immer die EU-Ebene mit allen 27 Mitgliedsstaaten sei, auf der die Dinge vorangetrieben werden: Eine "Koalition der Willigen", wie sie jetzt etwa der britische Premierminister für die Ukraine vorgeschlagen hat, bestehend aus wichtigen EU-Ländern, aber auch Großbritannien und der Türkei, kann entschlossener und schneller handeln – ohne dass ein Staatschef mit sehr eigener Agenda sein Veto einlegt. Ein frisches Beispiel vom Gipfel am Donnerstag: Da war es mal wieder Ungarns Präsident Viktor Orbán, der ein EU-Paket für die Ukraine über sieben Milliarden Euro mit seiner Stimme blockierte.  

Auf der Ebene der Verteidigungsminister treffen sich seit November 2024 regelmäßig eine "Group of Five" genannte Gruppe aus Polen, Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland, um die eigene Aufrüstung gegenüber Russland und die Versorgung der Ukraine zu koordinieren. Da muss es jetzt schnell und pragmatisch gehen, etwa beim Ersatz der von der ukrainischen Armee genutzten Starlink-Terminals durch den französischen Satellitenbetreiber Eutelsat. Die Möglichkeiten Trumps, die Ukraine durch das buchstäbliche "Abschalten" von Unterstützung gefügig zu machen, müssen minimiert werden.  

Zugleich kommen die Europäer aber nicht umhin, mit einem eigenen Friedensplan gegenüber den USA in die Vorhand zu kommen. Es ist leicht, sich wie heute demonstrativ um Wolodymyr Selenskyj zu versammeln und Trump für seinen "Verrat an der Ukraine" zu geißeln – aber immerhin hat der US-Präsident in die Friedensverhandlungen Bewegung gebracht. Die Ideen der Europäer, diesen Krieg aus der Sackgasse zu führen, in der er sich seit etwa zwei Jahren befindet, beschränkten sich bis zuletzt auf leere Phrasen – vielleicht weil man insgeheim hoffte, dass Trump es schon irgendwie regeln werde? Mit dem heutigen Gipfel dürften die Europäer gegenüber Trump ein Zeichen dafür gesetzt haben, warum sie zumindest mit an den Verhandlungstisch gehören.  

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