Christian Lindner hat mit der Ankündigung, keine Elternzeit nehmen zu wollen, polarisiert. Zurecht? Der stern diskutiert.
Pro: Elternzeit ist politisch – und das sollte Lindner wissen!
von Sarah Stendel
Darf man sich darüber ärgern, wenn Christian Linder öffentlich sagt, dass er keine Elternzeit nehmen wird? Aber natürlich! Denn die Entscheidung darüber ist nicht nur privat, sondern auch politisch.
2023 nahmen in Deutschland lediglich 26,3 Prozent der Väter überhaupt Elternzeit. Davon die meisten nur die berüchtigten zwei "Vätermonate", gern für gemeinsamen Urlaub genutzt, statt für alleinige Verantwortung für den Nachwuchs. Die Hauptlast der Kinderbetreuung tragen in Deutschland immer noch die Frauen.
Dass diese Entscheidung nicht frei getroffen wird, wenn sie immer wieder so ungleich verteilt ausfällt, ist offensichtlich. Das Ganze liegt an den patriarchalen Strukturen unserer Gesellschaft, angefangen beim Gender-Pay-Gap bis hin zu verstaubten Rollenvorstellungen, die es etwa Männern im Job manchmal tatsächlich schwieriger machen, die ihnen zustehende Zeit mit dem Kind durchzusetzen.
Kommentar Schweden Elterngeld für Großeltern 20.10
Als Politiker sollte Christian Lindner all das wissen und diese Zahlen kennen. Elternzeit und Care-Arbeit sind ein politisches Thema, für das es politische Lösungen gäbe, wäre man gewillt, diese umzusetzen.
Und genau diese Ignoranz kann man Lindner vorwerfen: Wieso ist das Thema trotz Arbeitskräftemangel schon wieder nicht relevant für den Wahlkampf? Lindner sagt, dass Elternzeit für Politiker "nicht vorgesehen" sei und meint damit, dass es keine gesetzliche Regelung dazu gibt.
Auch an anderen Stellen hierzulande wird die Kindererziehung nicht mitgedacht. Gerade hat Katja de la Viña, Vorstandsvorsitzende der Allianz Leben, ihren renommierten Posten aufgeben – zugunsten der Kinder. Vereinbarkeit und Top-Jobs? Scheinbar unmöglich. Doch wie soll sich das ändern, wenn es niemanden gibt, der das einfordert und vorlebt? Gerade Lindner, der sonst so gern über Fortschritt redet, hätte hier konkret werden können. Wenn ihm denn wirklich Gleichberechtigung am Herzen läge.
Linder und seine Frau wollen sich trotzdem die Care-Arbeit teilen, wie er übrigens schon 2022 versicherte. Damals wurde er in einem Interview sehr konkret. Er habe da schon seine Vorstellungen für die Zeit, wenn die Kinder da sind: Bücher schreiben, vielleicht promovieren, jagen, fischen, imkern. Klingt das nach "wir werden uns als Familie gleichberechtigt aufstellen"? Eben.
Contra: Ob man in Elternzeit geht, ist Privatsache – das gilt auch für Politiker
von Phil Göbel
Christian Lindner will also nach seiner Zeit als Finanzminister und Ampel-Sprenger nicht in Elternzeit gehen. So richtig wundern dürfte es kaum jemanden, dass der Digital-Christian, wie er sich selbst gerne gibt, in Sachen Gleichberechtigung ungefähr auf der gleichen Stufe steht wie Wolfgang Kubicki.
Trotzdem sorgt diese Ankündigung in manchen Kreisen für Aufregung. Statt sich um sein Kind und seine Frau Franca Lehfehldt zu kümmern, will Lindner lieber weiter arbeiten, weil eine Elternzeit in seinem Job "nicht vorgesehen" sei.
PAID Kolumne Interview Isabell Prophet Elternzeit 20.14
Ist das fortschrittlich? Kein bisschen! Führt er damit alte, patriarchale Strukturen fort, in denen der Mann schon wieder im Büro ist, kaum dass seine Frau das Wochenbett angewärmt hat? Auf jeden Fall! Das muss man keineswegs toll finden oder unterstützen. Nur: Ob jemand in Elternzeit geht oder nicht, ist eine private Entscheidung – und da hat auch niemand reinzureden. Das gilt auch für einen Politiker.
Natürlich hätte der Ex-Finanzminister ein Zeichen damit setzen können, sich zeitweise zurückzuziehen, um seine Frau nach der Geburt des Kindes zu unterstützen und seinen väterlichen Pflichten nachzukommen. Doch es steht niemandem zu, diese Vorbildfunktion einzufordern.
Was das Ehepaar Lindner/Lehfeldt privat verabredet, ist deren Sache. Und ja: Es soll auch Frauen geben, die sich mit dieser (altmodischen) Rollenverteilung wohlfühlen. Wer das ignoriert und von Lindner pauschal fordert, er müsse in Elternzeit gehen, weil alles andere nicht zeitgemäß sei, erweist dem Female Empowerment wahrlich einen Bärendienst. Denn er entmündigt Lehfehldt, selbst zu entscheiden, welches Lebenskonzept am besten zu ihr, ihrer Ehe und ihrem Kind passt.