Nach dem Sturz des Machthabers Assad in Syrien hat Israel nicht lange gefackelt. Das Militär vernichtete bis zu 80 Prozent des dortigen Waffenarsenals. Legitimer Selbstschutz oder Völkerrechtsverstoß?
Zuletzt hatte Israel im Sechstagekrieg 1967 die Luftwaffe eines feindlichen Nachbarlandes fast komplett zerstört. Schon in den ersten Stunden des Krieges wurden damals die meisten Flieger Ägyptens noch am Boden zerbombt. Nach der Machtübernahme der Rebellenallianz im nördlichen Nachbarland Syrien hat Israel diesmal binnen 48 Stunden nicht nur die Luftwaffe vernichtet. Sondern auch die Marine, Flugabwehrbatterien, Waffenproduktionsstätten sowie die meisten strategischen Waffen wie Scud-Raketen. Und auch Marschflugkörper ebenso wie Drohnen und Panzer wurden nach israelischen Armeeangaben zerstört. Dies seien bis zu 80 Prozent der militärischen Kapazitäten, über die der gestürzte syrische Machthaber Baschar al-Assad verfügt hatte, hieß es.
Israels Vorgehen in Syrien stößt international auf geteiltes Echo
Als Rechtfertigung für den in Syrien beispiellosen Großangriff wurde die Sorge genannt, die Waffen könnten "in die Hände terroristischer Elemente fallen". Hintergrund: Die siegreichen Aufständischen, die seit dem Wochenende in Damaskus das Sagen haben, werden von Islamisten angeführt.
Israels Vorgehen stößt international auf ein geteiltes Echo. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Michael Roth, sagte im Deutschlandfunk, er könne Israels Vorgehen gut verstehen. "Denn von den Massenvernichtungswaffen, die sich in Syrien befinden, vor allem auch von biologischen und chemischen Waffen, geht eine immense Gefahr aus", sagte der SPD-Politiker.
Es könne nicht im Interesse Israels sein, dass ein möglicherweise islamistischer Staat über eigene brandgefährliche Waffen verfüge. Man müsse dafür sorgen, dass aus Syrien keine Gefahr für die ganze Region, aber auch für Europa ausgehe.
Völkerrechtliche Bedenken
Völkerrechtlich ist das Vorgehen laut Roth hingegen auch bedenklich. Er halte es nicht für klug, dass israelische Soldaten auf syrisches Staatsgebiet vordringen, erklärte er. Israels Armee hatte nach der Übernahme der Kontrolle durch islamistische Rebellen in Syrien Truppen in die 1974 vereinbarte Pufferzone zwischen den von Israel besetzten Golanhöhen und dem Nachbarland verlegt, darunter auch auf die syrische Seite des Berges Hermon. Dabei handelt es sich um einen strategischen Aussichtspunkt mit Blick auf große Teile Syriens und Libanons.
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte betont, es sei eine vorübergehende Maßnahme, "bis eine passende Regelung gefunden ist". Frankreich rief Israel dazu auf, sich aus der Zone zurückzuziehen und die Souveränität und territoriale Integrität Syriens zu respektieren.
Britischer Außenminister sieht "legitime Sicherheitsbedenken Israels"
Der britische Außenminister David Lammy sprach dagegen von "legitimen Sicherheitsbedenken Israels", vor allem in einem Land, das die Terrororganisationen Islamischer Staat und Al-Kaida "beherbergt" habe. Man wünsche sich für Syrien "eine inklusive Gesellschaft, die alle unterstützt, aber keiner von uns kann etwas mit Terrorgruppen zu tun haben".
Nitzan Nuriel, ehemaliger Leiter der Abteilung für Terrorbekämpfung im Büro des israelischen Ministerpräsidenten, sagte im Gespräch mit Journalisten: "Im schlimmsten Fall könnte Syrien zum Somalia des Nahen Osten werden - dies würde bedeuten, dass viele Organisationen sich gegenseitig bekämpfen und in den nächsten Jahren keine Stabilität herrscht."
Basierend auf der Erfahrung mit Libyen und Afghanistan wisse man, dass "wenn ein Regime zusammenbricht, und Terrorgruppen die Kontrolle übernehmen, eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie die fortschrittlichen Waffensysteme übernehmen und einsetzen". Daher habe man in Syrien alles zerstört, "was potenzielle Rivalen in Zukunft einsetzen könnten". Man hoffe, dass die Rebellenallianz mögliche Annäherungsversuche des israelischen Erzfeinds Irans - ein enger Verbündeter Assads - zurückweisen werde.
Rebellen vorerst zurückhaltend Israel gegenüber
In Syrien hält sich die Rebellengruppe HTS unter Anführer Ahmed al-Scharaa, zuvor bekannt als Abu Mohammed al-Dschulani, mit Äußerungen zu Israel bisher zurück. Die massiven israelischen Bombardements im Land kommentierte die Gruppe ebenso wenig wie Bewegungen israelischer Kampftruppen im syrischen Grenzgebiet zu den von Israel annektierten Golanhöhen. HTS und die Übergangsregierung von Mohammed al-Baschir sind vor allem damit beschäftigt, Ordnung in den von ihr kontrollierten Gebieten herzustellen und sich politisch zu sortieren.
Ob die Rebellen die Kontrolle israelischer Truppen in der Pufferzone hinnehmen, ist deshalb auch offen. Al-Baschir sagte in einem Interview, er und seine Übergangsregierung hätten "keine Probleme mit Staaten, Parteien oder Sekten, die sich von Assads blutrünstigem Regime distanziert haben". Israel hatte vor dem Sturz Assads immer wieder Ziele in dessen Regierungsgebieten angegriffen. Dass Israel und die Rebellen in Assad einen gemeinsamen Feind hatten, muss aber keineswegs heißen, dass sie nun friedliche Beziehungen miteinander aufnehmen.
Experten halten Modus vivendi für möglich
"Weder Israel noch HTS dürften eine gegenseitige Annäherung anstreben", schreibt die Denkfabrik Crisis Group. Beide könnten aber versuchen, Spannungen abzubauen und den Sicherheitsinteressen der Gegenseite zu dienen - al-Scharaa denke womöglich auch an Israels Verbündete im Westen und habe trotz des Drucks wütender Syrer bisher davon abgesehen, Israels Angriffe zu kritisieren.