CDU-Chef Friedrich Merz hat eine Mehrheit für sein Zustrombegrenzungsgesetz verfehlt. Im Bundestag ging es vorher heftig zur Sache. Mittendrin: das Hauptstadtteam des stern.
Es ist der Abschluss einer denkwürdigen Sitzungswoche im Deutschen Bundestag. Das Parlament hat am Freitag knapp gegen das Zustrombegrenzungsgesetz von CDU und CSU gestimmt. Unionsfraktionschef Friedrich Merz hätte für eine Mehrheit auch Stimmen der AfD in Kauf genommen – wie schon beim Entschließungsantrag am Mittwoch. Entsprechend hoch ging es im Parlament her.
Drei Erkenntnisse eines turbulenten Tages in Berlin:
Merz zahlt einen viel zu hohen Preis
Ja, die Union hat an diesem Tag etwas bewiesen: Sie meint es ernst mit einer radikal anderen Asylpolitik, mit einer Abkehr vom Kurs von Angela Merkel. Dafür nimmt sie sogar – nun schon die zweite – Abstimmungen mit der AfD in Kauf. Das ist eine Zäsur, egal, wie sehr man erklärt, man wolle der AfD damit schaden. Mag ja sein, dass es sogar bei den Wählern ankommt, dass Merz bis zum Wahltag davon profitiert.
Doch dieser Tag hat noch etwas gezeigt: Merz hat für diesen Beweis viel zu hoch gepokert. Zwölf Abgeordnete aus der eigenen Fraktion versagten ihm die Unterstützung, seine Partei ist in Aufruhr. Ein Mann wie Michel Friedman tritt wegen Merz aus der CDU aus. Merz zerstört damit, was er über Jahre mühsam aufgebaut hat: die Einigkeit der letzten großen Volkspartei.
Hinzu kommt: Seine Erpressung der anderen Parteien der Mitte lässt Schlimmes für die Zeit nach dem Wahltag ahnen. Viel Vertrauen ist kaputt. Nein, Merz hat SPD und Grünen kein Angebot gemacht, wie er behauptet. Er ließ ihnen mitteilen, entweder sie übernähmen die inhaltliche Position der Union oder notfalls würde man mit der AfD stimmen. Das war kurzsichtig.
Und war es das wert? Faktisch ändert sich für die Menschen im Land nach dieser Woche nichts. Das Zustrombegrenzungsgesetz scheiterte am Freitagabend, trotz der Stimmen der AfD, ausgerechnet an fehlenden Stimmen aus FDP und Union. Selbst wenn Merz es durchgebracht hätte, wäre ihm im Bundesrat selbst von Ministerpräsidenten der Union die Zustimmung versagt worden. Das ist ziemlich viel Lärm um ziemlich wenig.
Was er nun tatsächlich bekommt? Im Osten formieren sich jetzt die AfD-Freunde in der Union, die die Brandmauer längst abschaffen wollen. Die Rechtsextremisten feixen, johlen. Merz hat sie politisch ins Rampenlicht gerückt. War es das also wirklich wert? Nein. (Julius Betschka)
Die SPD wittert vorsichtig Morgenluft, doch es herrscht auch Katerstimmung
Die Genossen verzogen keine Miene, als der vermeintlich heilsame Schock für die Sozialdemokraten verlesen wurde: Der Gesetzentwurf der Union hat keine Mehrheit erreicht, und das trotz Stimmen der AfD. Doch wirklich freuen will sich in der SPD niemand, jedenfalls nicht öffentlich und auch nicht mit abschließender Gewissheit.
Denn der "Tabubruch"von Mittwoch lasse sich nicht ungeschehen machen, heißt es. Und das Ergebnis von diesem Freitag, nach einer heftigen und unversöhnlichen Debatte, die Spuren hinterlassen dürfte, fiel knapp aus: Unterm Strich nahmen immer noch viele Christdemokraten und Liberale in Kauf, dass die Rechtspopulisten das Zünglein an der Waage sein könnten.
Das wirft für die Sozialdemokraten unangenehme Frage auf: Was, wenn die Union trotz allem als Siegerin bei der Wahl durchs Ziel geht? Könnte man Merz dann zum Kanzler wählen? Müsste man es sogar, sollte nur eine schwarz-rote Koalition möglich sein? Um im Zweifel erneut ein schwarz-blaues Zusammenwirken zu verhindern?
Auch deswegen spielt man auf Sieg. Das Merz-Manöver hat der SPD ein frisches Motiv für den Wahlkampf beschert, neue Munition: Die Kanzlerpartei stehe stabil, auf sie sei Verlass – während man Merz, dem "Zocker", das Land nicht anvertrauen dürfe.
Laut SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich habe auch die SPD verhindert, dass das Land auf eine "Rutschbahn" gerate. Nun sei es an den Wählern, darüber zu befinden. (Florian Schillat)
Die Schuldfrage ist nicht einfach zu klären
Was für ein Tag im Bundestag, was für ein Durcheinander, ein Hin und Her. Nach einem Unterbrechungsmarathon hat der Bundestag doch noch über den Gesetzentwurf der Union abgestimmt. Der wurde dann zwar abgelehnt, doch fest steht: Friedrich Merz ist sehenden Auges in eine Abstimmung gegangen, für die er eine Mehrheit mit der AfD in Kauf genommen hat. Warum konnte es im Vorfeld während der stundenlangen Verhandlungen zu keiner Einigung zwischen den demokratischen Parteien kommen? Darüber gehen die Erzählungen jetzt auseinander. Auch das ist Politik.
In ihren Statements verbreiten Union und FDP auf der einen, SPD und Grüne auf der anderen Seite grundlegend unterschiedliche Erzählungen dieses. Am Morgen hatte die FDP beantragt, den Entwurf nicht an diesem Freitag zu beschließen, sondern ihn zurück in den Innenausschuss zu überweisen – um dort zu einer Verständigung gemeinsam mit Union, SPD und Grünen zu kommen. FDP-Fraktionschef Christian Dürr sagte wiederholt den Nachmittag über: Er habe alles versucht, eine Einigung der demokratischen Fraktionen zu erreichen. Doch hätten sich SPD und Grüne darauf nicht eingelassen, sie seien "nicht bereit für eine Migrationswende". Er habe nicht den Eindruck gewonnen, dass vor allem die Grünen wirklich ernsthaft zu Verschärfungen in der Migration kommen wollten.
SPD und Grüne weisen das von sich. Man habe gesagt, man sei bereit über alles zu verhandeln, sagte die grüne Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge. Doch sei das "Angebot" von Union und FDP eher eine Drohung gewesen: 2Stimmt zu, sonst stimmen wir mit den Nazis" – so habe sie die Ansage in den Verhandlungsrunden wahrgenommen. Für Dröge ist klar: "So gehen Demokraten nicht miteinander um." Die Grünen und die SPD hätten auch eine Bedingung gehabt: dass die Brandmauer zur AfD aufrechterhalten werde, man also zusage, am Ende nicht auf die Stimmen der in Teilen rechtsextremen Partei zu setzen. Auf diesen "Wunsch, diese Bitte, diesen Appell" seien die beiden anderen Fraktionen nicht eingegangen.
Was folgt daraus? Wo es am Morgen noch eine kleine Hoffnung auf eine konstruktive Lösung gab, sind die Fronten nun verhärtet wie wohl selten im Parlament. Falls noch Vertrauen vorhanden war, scheint das nun nachhaltig geschädigt. (Lisa Becke)