Im Südosten der Ukraine geraten die Verteidiger massiv in Bedrängnis: Dort, wo die Donezk-Front auf den Saporischschja-Abschnitt stößt, brechen russische Stoßtruppen durch die ukrainischen Linien. Mit der Bergbaustadt Wuhledar - seit 2022 Bollwerk an der Front - droht ein zentraler Dreh- und Angelpunkt zu fallen.
Im Kampf gegen die russische Invasionsarmee droht der Ukraine ein empfindlicher Rückschlag: Die Frontstadt Wuhledar im Südosten der Ukraine ist wohl nicht mehr lange zu halten. Abseits der russischen Vorstöße bei Pokrowsk und im Schatten der ukrainischen Erfolge in der Region Kursk ist es russischen Kampfverbänden in den vergangenen Wochen gelungen, südwestlich von Donezk tiefer in die ukrainischen Linien vorzudringen.
Mitte September nahmen russische Stoßtruppen zwei größere Schachtanlagen nordöstlich der Bergbaustadt ein. Vergangene Woche drangen russische Kräfte dann überraschend auch westlich der Stadt über den Fluss Kaschlahatsch nach Norden vor. Die Stadt Wuhledar, die vor dem russischen Überfall einst gut 15.000 Einwohner zählte, liegt damit plötzlich zwischen zwei russischen Angriffszangen und ist akut von der Umschließung bedroht.
Das Problem: Von den Abraumhalden im Nordosten können russische Artilleriebeobachter das kompakte Stadtgebiet von Wuhledar und auch das Terrain nördlich des Stadtzentrums überblicken. Dort verlaufen entlang schmaler Wald- und Heckenstreifen die letzten offenen ukrainischen Versorgungsrouten. "Man muss davon ausgehen, dass die 72. mechanisierte Brigade, also eine mit Panzern und Kampfschützenpanzern ausgestattete Brigade, das Gebiet nicht wird halten können", meinte Militärexperte Markus Reisner im Interview bei ntv.de.
Ein Blick auf die Karte zeigt, wie brenzlig sich die Situation für die ukrainischen Verbände darstellt: Wuhledar selbst besteht im Kern aus einer Ansammlung geometrisch angeordneter Plattenbauten aus den 1960er Jahren. Die Planstadt, die noch zu Sowjetzeiten als Unterkunft für Zehntausende Arbeiter für die nahegelegenen Kohlebergwerke errichtet worden war, steht seit Monaten unter Dauerbeschuss.
Der unablässige Hagel an Artilleriegranaten und die Einschläge schwerer Gleitbomben haben die Stadt längst in ein riesiges Trümmerfeld verwandelt. Deckung und sichere Unterstände sind dort wohl nur noch in Betonbauten und in den letzten verbliebenen Kellern zu finden. Mitte September erschütterten schwere Explosionen die Region: Russische Truppen sprengten den weithin sichtbaren Turm der "Pіwdennodonbaska-Mine Nr. 3", einst eines der größten Kohlebergwerke des Landes.
Für die Ukraine hat der Ort enorme symbolische Bedeutung: Wuhledar stand früher für den ukrainischen Reichtum an Bodenschätzen. Im Lauf des Krieges entwickelte sich Wuhledar zum Symbol des ukrainischen Widerstandswillens. Die Stadt lag fast seit Beginn des russischen Überfalls in unmittelbarer Nähe der Front.
Schauplatz brutaler Schlachten
Wenige Hundert Meter südlich der größtenteils evakuierten Stadt konnten die Ukrainer im Februar 2023 den Russen eine verheerende Niederlage beibringen. Mehrere Wellen starker russischer Panzerverbände sollen dort beim versuchten Frontalangriff auf die Stadt im Feuer ukrainischer Panzerabwehrraketen vernichtet worden sein.
Die Russen, hieß es, seien während der Wintermonate 2022/23 immer wieder "über ihre eigenen Leichen" auf Wuhledar vorgerückt. Im Netz kursierende Videos zeigten unter anderem russische Kolonnen, die in den Minenfeldern vor der Stadt unter gezieltem ukrainischem Beschuss in Panik den Rückzug antreten mussten. Die Kämpfe im Vorfeld der Stadt flauten in den vergangenen beiden Kriegsjahren kaum ab. Südlich von Wuhledar müssen die Russen schwer vorstellbare Verluste erlitten haben.
Selbst in der russischen Militärblogger-Szene wurde das Vorgehen ungewohnt offen kritisiert. In Moskau bewirkte das keine sichtbaren Konsequenzen. Im Gegenteil: Einer der für das russische Debakel verantwortlichen Kommandeure wurde Monate später von Kremlchef Wladimir Putin befördert.
Wie viele ukrainische Verteidiger sich aktuell noch in dem rund 1,2 Quadratkilometer großen Gebiet aufhalten, ist unbekannt. Die letzten Bewohner der Stadt dürften längst geflohen sein. Die ukrainische Führung hält sich zu ihren militärischen Plänen generell bedeckt.
Offenes Gelände im Hinterland
Sollte Wuhledar fallen, wären die strategischen Auswirkungen zunächst gering, sagt Oberst Reisner vom österreichischen Bundesheer. "Für die Versorgungssicherheit an der Front ist Wuhledar nicht so entscheidend wie etwa der umkämpfte Logistik-Knotenpunkt Pokrowsk weiter im Norden", erklärte er im ntv-Interview zur Lage an der Front. "Die erste wichtige Versorgungslinie verläuft erst zehn Kilometer östlich von Wuhledar, also tiefer im ukrainischen Gebiet."
Die russischen Geländegewinne in der Region dürften für die Ukrainer dennoch schmerzhaft werden. Hinter Wuhledar beginnt offenes Ackerland, in dem sich kaum natürliche Geländehindernisse wie Gewässer oder Höhenrücken für die Verteidigung anbieten. Größere Ortschaften sind in dem Gebiet ebenso rar.
"Wir sehen sehr klar, dass die Russen versuchen, vor Beginn der Schlammperiode im Herbst noch ein Ergebnis zu erzielen", meinte Reisner zu den operativen Anstrengungen auf russischer Seite. Wuhledar liegt an der Nahtstelle zwischen der Front im Osten vor Donezk und der Saporischschja-Front im Süden der Ukraine. Die Gefechtsgebiete vor Pokrowsk liegen in der Luftlinie Richtung Norden weniger als 60 Kilometer entfernt. Sollten den Russen die Einnahme des Bollwerks Wuhledar gelingen, könnten weitere Frontabschnitte in Bewegung geraten.