Beim Vorstoß in russisches Grenzgebiet soll die Ukraine auch Sudscha eingenommen haben. Von dort aus pumpt Gazprom russisches Gas in EU-Staaten. Die Einnahme des Orts könnte zum abrupten Lieferstopp führen. Spätestens Ende 2024 müssen die EU-Länder aber sowieso Alternativen finden.
Für Österreich und die Slowakei könnte es brenzlig werden: Aufgrund der ukrainischen Invasion in der Grenzregion Kursk könnte der Kreml beschließen, die Lieferungen russischen Gases über die Transgas-Pipeline durch die Ukraine einzustellen. Dieser Transit wird spätestens Anfang kommenden Jahres sowieso gestoppt. Denn die Regierung in Kiew weigert sich, den Vertrag mit Moskau zu verlängern, der die Lieferungen über die Trasse durch ihr Gebiet sicherstellt.
Dabei bekommt sie unter anderem Rückendeckung von der EU-Kommission. Offiziell läuft dieser Vertrag am 31. Dezember 2024 aus. Die Pipeline versorgte früher unter anderem Tschechien, Ungarn, Österreich und die Slowakei mit Erdgas. An ihrem Tropf hängen mittlerweile aber nur noch Wien und Bratislava. Der Import von russischem Pipeline-Gas in die EU ist nicht sanktioniert. Gazprom beliefert EU-Staaten wie Ungarn und Griechenland auch über die Pipeline Turkstream, die von der südrussischen Küste durch das Schwarze Meer in den europäischen Teil der Türkei verläuft.
Ob Österreich und die Slowakei zumindest in den kommenden Monaten noch auf Moskaus Gaslieferungen setzen können, entscheidet sich bei den Kämpfen der Ukrainer im russischen Grenzgebiet. Bei ihrem Vorstoß in Kursk sollen Kiews Truppen auch Sudscha, einen Ort mit 5000 Einwohnern im Südwesten Russlands, eingenommen haben.
Hälfte der russischen Pipeline-Importe in EU über Sudscha
Über Sudscha pumpt der Staatskonzern Gazprom sein Gas durch die Ukraine in die EU-Mitgliedsstaaten. Die Kleinstadt sei in die Hände der Ukraine gefallen, heißt es in einigen sozialen Netzwerken, darunter auch im Telegram-Kanal Rybar, der von russischen Militärbloggern betrieben wird. Zudem kursieren im Internet Videos, die ukrainische Streitkräfte in Sudscha zeigen sollen.
Am Montag hatte Gazprom noch mitgeteilt, es werde weiterhin Gas durch den Knotenpunkt gepumpt. 2023 wurden über Sudscha etwa 14,65 Milliarden Kubikmeter Gas bereitgestellt. Das entsprach etwa der Hälfte der russischen Erdgas-Exporte durch Pipelines nach Europa oder etwa fünf Prozent des EU-Verbrauchs. Doch die Situation in Sudscha kann sich bald ändern.
"Es wäre möglich, dass Russlands Präsident Wladimir Putin Gazprom dazu veranlasst, die Lieferungen über Sudscha in die EU zu stoppen, falls der Ort langfristig von den Ukrainern gehalten wird", sagt Szymon Kardaś, Energie-Experte im Warschauer Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR), im Gespräch mit ntv.de. Ein abruptes Ende der Lieferungen sei zwar für Russland ökonomisch kaum sinnvoll. Putin habe aber bereits in der Vergangenheit öfter eher "emotional als rational" reagiert, wenn es um wirtschaftliche Entscheidungen ging, betont Kardaś. Zudem könnte er die Situation politisch nutzen, um Druck auf die Slowakei und Österreich auszuüben.
Österreich könnte von Deutschland oder Italien beliefert werden
Österreich bezog im Mai dieses Jahres noch 90 Prozent seiner Gas-Importe durch die Transgas-Pipeline. Die Slowakei importierte im vergangenen Jahr noch die Hälfte ihrer Erdgas-Einfuhren über die Trasse durch die Ukraine. Die beiden Länder arbeiten bereits daran, unabhängig von russischen Importen zu werden. Hilfe bekommen sie dabei von Vertretern der Europäischen Union, die auch die Gasversorgung der Ukraine nach dem Lieferstopp sicherstellen wollen.
"Die EU bereitet sich schon seit vielen Monaten darauf vor, dass das Gastransitabkommen Ende 2024 endet. Und Energiekommissarin Kadri Simson hat mehrfach betont: Wir sind bereit, ohne dieses russische Gas zu leben", teilt Birgit Schmeitzner, Sprecherin der EU-Kommission, auf Anfrage von ntv.de mit. Europa sei in der Lage, seinen Gas-Bedarf für den kommenden Winter und das kommende Frühjahr zu decken - auch ohne die Importe aus Russland über die Transgas-Pipeline.
Laut Medienberichten wurde darüber verhandelt, die Pipeline durch die Ukraine mit Gas aus Aserbaidschan zu füllen. Ein solcher Plan liegt jedoch zurzeit nicht auf dem Tisch. Viel mehr suchen Österreich und die Slowakei auch nach individuellen Lösungen, um ihre Energieversorgung sicherzustellen. Österreich könnte notfalls von Deutschland oder Italien beliefert werden, die Slowakei von Polen, sagt Kardaś. Preissprünge wären dann in beiden Ländern möglich. Doch das österreichische Klimaschutzministerium blickt gelassen auf die Lage. Etwaige Preisanstiege in Österreich sind nach Angaben des Ministeriums nur von kurzer Dauer und würden nicht zu Verwerfungen am europäischen Großhandelsmarkt führen.
Auch Tschechien wurde einst über die Transgas-Pipeline beliefert. Prag verzichtet mittlerweile jedoch völlig darauf, wie aktuelle Daten belegen. Aus diesen Daten liest Kardaś auch ab, wie Ungarn seine Gaslieferungen durch die Ukraine substituiert hat: Gazprom beliefert das Land jetzt vermehrt über die Pipeline Turkstream. Von Turkstream wird nur eine Leitung direkt für den türkischen Markt genutzt, die andere versorgt auch EU-Staaten. Laut Kardaś hat sich das Liefervolumen durch Turkstream merklich erhöht: Vergangenes Jahr flossen von Ende Januar bis Ende Juli noch 6,5 Milliarden Kubikmeter Gas durch die Pipeline in die EU, dieses Jahr im Vergleichszeitraum bereits 8,3 Milliarden Kubikmeter Gas. Das zusätzliche Gas werde unter anderem nach Ungern geliefert, so Kardaś.