Die Ukraine hat eine ballistische Rakete getestet. Mit so einer Waffe aus eigener Produktion kann Kiew Ziele tief in Russland treffen und macht sich unabhängig von den Bedenken der Verbündeten.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gab am 28. August bekannt, dass das Land erfolgreich seine erste im Inland hergestellte ballistische Rakete getestet habe. Weitere Einzelheiten wollte er nicht nennen. Ganz genau war Selenskyj dabei nicht, die Ukraine verfügte schon zuvor über ballistische Raketen. "Neu" dürften Reichweite und Nutzlast sein.
Reichweite von 1000 Kilometern
Kiew führt eine eigene strategische Luftoffensive gegen Russland. Ziele sind vor allem Treibstofflager, Raffinerien und Flughäfen. Dazu kommen vorrangig politische Ziele, etwa Moskau. Die Angriffe werden bislang von Drohnen durchgeführt, die auf Leichtflugzeugen basieren. Sie haben eine sehr große Reichweite, sind aber wie auch die russischen Nachbauten iranischer Drohnen nicht unbesiegbar. Ihre Erfolge basieren auf der Größe Russlands und der Vielzahl möglicher Ziele. Kiews Luftoffensive hätte ganz andere Möglichkeiten mit ballistischen Raketen eigener Bauart und einer Reichweite von bis zu 700 oder gar 1000 Kilometern und einem Gefechtskopf von etwa 500 Kilogramm.
Die ukrainischen Drohnen kommen ins Ziel, weil sie nicht entdeckt werden. Können aber auch von Jagdkommandos mit auf Pick-ups montierten Maschinengewehren abgeschossen werden. Um ballistische Raketen abzuwehren, wird eine aufwendige Luftverteidigung benötigt. Überdies ist die Reaktionszeit sehr viel knapper. Die langsam fliegenden Drohnen können nur statische Ziele bekämpfen.
Kiews Version der Iskanderrakete
Praktisch wäre die Kiew-Rakete das Äquivalent zu den russischen Iskanderraketen. Diese können auch Flugzeuge oder Raketenwerfer bekämpfen, wenn diese einen kleinen Stopp einlegen. Neben den Angriffen im russischen Hinterland wirken solche Raketen auch an der Front. Durch die große Reichweite müssen die Raketenwerfer nicht verlegt werden, um an einem beliebigen Frontabschnitt einzugreifen.
Wie das funktioniert, haben die Russen nach dem 8. August im Raum Kursk vorgeführt. Dort wurden ihre schwachen Kräfte von den Ukrainern überrascht, dennoch konnten die Russen sehr schnell schwere Feuerkraft in dem Raum entfesseln. Dazu benötigten sie nur Aufklärungsdrohnen, die ihren Iskanderraketen Ziele zuwiesen.
Langjährige Entwicklung der Rakete
Selenskyj gab keine weiteren Einzelheiten bekannt. Es ist aber anzunehmen, dass es sich um eine reichweitengesteigerte Version des in der Ukraine entwickelten Systems Sapsan (Wanderfalke) beziehungsweise Hrim-2 (Donner) handelt. Hrim-2 ist eine taktische Kurzstreckenrakete mit 280 Kilometer Reichweite. Sie wurde für den Export entwickelt. Um internationalen Verträgen zu entsprechen, wurde die Reichweite begrenzt.
Die ursprüngliche Version, das Sapsan-System, soll 500 Kilometer ermöglichen. Die Entwicklung begann 2006, lange vor den Spannungen mit Russland. Damit sollte das alte sowjetische Totschka-U-System abgelöst werden. Das hatte nur eine Reichweite von 120 Kilometern und war von russischen Komponenten abhängig.
Die Ukraine verfügte immer über das nötige Know-How für den Raketenbau. Das Konstruktionsbüro Pivdenne entwarf schon in der Sowjetzeit Satelliten und Interkontinentalraketen, damals unter dem Namen OKB-586. Die Entwicklung und vor allem die Produktion der Waffe wurde vom Geldmangel behindert. Erst nach 2014/15 wurde ein neuer Anlauf unternommen. 2021 wurde eine Testbatterie in Auftrag gegeben, im Juni 2023 sollen die Mittel für die Fertigstellung des Programms bewilligt worden sein. Das ist nun offenbar geschehen.
Test bedeutet nicht Produktion
Konkret bedeutet die Ankündigung von Selenskyj wenig. Es ist nicht klar, welche Reichweite die Rakete hat. Ukrainische Stellen sprachen 2023 allerdings von 1000 Kilometern. Es ist anzunehmen, dass bisher nur einzelne Erprobungsmodelle hergestellt worden sind. Ob und wie weit die Vorbereitungen zu einer industriellen Serienproduktion begonnen haben, ist nicht bekannt. Das Gleiche gilt für das schwere Fahrzeug, das die Rakete transportieren muss. Der Bau eigener Fernwaffen befreit Kiew von den Begrenzungen der Partner.
Doch ein Raketensystem dieser Reichweite ist keine Billigwaffe wie kleine Drohnen, die in Hinterhofwerkstätten hergestellt werden können, bei denen man alle Bauteile auf dem Weltmarkt einkaufen kann und nur der Rahmen mit einem 3D-Drucker gefertigt werden muss. Es ist eine Herausforderung, eine ballistische Rakete von 700 oder 1000 Kilometer Reichweite in der Ukraine unter der russischen Bedrohung herzustellen. Kiew könnte den Bau und die Montage der einzelnen Module allerdings dezentralisieren und die Endmontage in einen geschützten Raum, ein altes Bergwerk oder einen Tunnel verlagern.
Der Einsatz größerer Mengen dieser Raketen wird also voraussichtlich auf sich warten lassen. Doch wenn es gelingt, eine Serienproduktion aufzubauen, erweitert Kiew seine Optionen im Kriegsjahr 2025 beträchtlich. Diese Raketen bedrohen die russischen Luftwaffenstützpunkte und Rüstungsbetriebe. Oder auch die Werfer der Iskanderraketen. Außerdem müsste Moskau eine geeignete Luftverteidigung für die großen Städte des Landes aufbauen.
Wunder darf man nicht erwarten. Letztlich schafft sich Kiew nur eine Waffe, über die Russland schon lange und in großer Zahl verfügt.
Luftkrieg wird intensiver und blutiger
Nicht nur Kiew, auch Russland steigert seine Waffenproduktion. Die Hoffnung, dass den Russen die smarten Waffen ausgehen, hat sich nicht bewahrheitet. Der Luftkrieg wird daher von Jahr zu Jahr intensiver. Weder Russland noch die Ukraine haben bislang eine ausgesprochene Billigrakete gebaut, so wie es bei den Drohnen geschieht.
Eine Rakete hoher Reichweite ist technisch aufwändiger als ein Drohne, die von einem besseren Mopedmotor angetrieben wird. Unmöglich ist so eine Konstruktion aber nicht. Im Jahr 2011 starteten dänische Tüftler eine neun Meter lange und 1,6 Tonnen schwere Rakete, die im Wesentlichen aus Baumarktteilen bestand. Ihr Modell müsste sicher verbessert werden, aber die Kosten für das Einzelstück beliefen sich auf nur 50.000 Euro. Denkbar wäre auch das alte Konzept der Bündelrakete wiederzubeleben. Hier wird ein einfaches, in Massen hergestelltes, Triebwerk in Form eines Rohrs zu einer großen Rakete "gebündelt".
Quellen: War Zone , Defence 24, Politico, BNE, Welt