Die Menschen in Ostdeutschland retteten und stürzten Kanzler. Sie wählten die AfD groß und das BSW in Regierungen. Und sie sind noch lange nicht fertig.
Nun ist es da, das nächste Einheitsjahr. Das 35. Jubiläum, das uns mit all den traditionell bemühten Feierlichkeiten droht, bewegt sich in Richtung des 40. und letzten Geburtstags der "Deutschndemokratschnrepublik" (Erich Honecker). Herrje.
Damals, im Dezember 1990, war ich gleichermaßen aus historischen wie alterstechnischen Gründen erstmals zur Wahl des Deutschen Bundestages berechtigt. Als voll konvertierter Thälmann-Pionier stimmte ich für die versprengten DDR-Oppositionsgrüppchen, die sich zum Bündnis 90 zusammengeschlossen hatten.
Die armen Bürgerrechtler waren längst von ihrer Revolution aufgefressen worden. Jetzt dienten sie als politischer Appendix, um einer westdeutschen Wohlstandspartei die parlamentarische Existenz zu sichern. Nahost Martin Debes
Es ging, was sonst, um die Grünen. Auf dem Gebiet der ehemaligen BRD waren sie an den nötigen fünf Prozent gescheitert. Doch weil für die gerade beigetretenen Länder einmalig eine exklusive Fünf-Prozent-Hürde galt, schafften es die Ostgrünen dank ihrer Listenverbindung mit Bündnis 90 in den Bundestag.
Unmittelbar nach der Wahl fusionierte die Westpartei mit den mandatierten Ossis. Somit hatte sie immerhin einige Abgeordnete vorzuweisen, ebenso wie die SED, die sich jetzt PDS nannte und ebenfalls mithilfe der Ost-Quote ins Parlament des früheren Klassenfeindes gelangt war.
Den großen Sieg allerdings errang die Union. Nachdem sie 1989 noch arg geschwächelt hatte, erholte sie sich mit der Einheitseuphorie und dem D-Mark-Export. Damit erhielt der hoffnungsfrohe Osten Helmut Kohl die Kanzlerschaft – nur um ihn acht Jahre später umso enttäuschter wieder abzuwählen.
Das notorisch unstete Wählerwesen der Ossis
Die Verluste für die CDU waren 1998 in Ostdeutschland besonders groß, während hier die SPD gleichzeitig derart viele Überhangmandate erhielt, dass es stabil für eine rot-grüne Mehrheit reichte. Die neue Ost-Hoffnung kam nun nicht mehr aus Oggersheim, sondern aus Hannover und hieß Gerhard Schröder.
Spätestens ab diesem Zeitpunkt begannen sich westdeutsche Wissenschaftler besorgten Blickes über das notorisch unstete Wählerwesen des gemeinen Ostdeutschen zu beugen. Ihr trauriger Befund: Die säkularisierte DDR hatte die konfessionellen Milieus größtenteils geschliffen und das einstige Bürgertum zum Rudiment verkommen lassen. Soziologische Milieus mit festen Wählerbindungen ließen sich kaum noch feststellen.
Der durchschnittliche Neuostdeutsche trat nur noch ungern einer Partei bei, das hatte ihm die Diktatur gründlich ausgetrieben. Stattdessen betrachtete er die Demokratie überwiegend als kapitalistische Dienstleistungseinrichtung für Wohlstand, Freiheit und Reisen. Weil seine alten politischen Ansichten mindestens überholt waren, bastelte er sich aus alten ideologischen Restbeständen der DDR und neuen bundesrepublikanischen Versatzstücken ein paar neue zusammen. Kolumne Nahost 9 1200
Im Zweifel wählte er, wie formuliere ich das jetzt am diplomatischsten aus Rücksicht auf meine Stammesgemeinschaft: eine starke Führungspersönlichkeit. Erst war es der barocke Kohl, der blühende Landschaften versprach – und dann, als die nicht pünktlich fertig wurden, der breitbeinige Schröder. Dass der eine der CDU angehörte und der andere der SPD, war dabei eher zu vernachlässigen.
Ja, ich weiß, das klingt jetzt arg nach identitätspolitischer Pauschalisierung. Aber dafür ist das ja hier auch eine identitätspolitische Kolumne.
Selbstverständlich war es auch der Osten, der Schröder, nachdem er gummibestiefelt die flutende Elbe durchschritten hatte, zu einer zweiten Kanzlerschaft verhalf. Sein Kontrahent Edmund Stoiber hatte den fatalen Fehler begangen und sich zu spät an den sächsischen Sandsäcken abfotografieren lassen.
Im Ergebnis wurde die SPD dank der ostdeutschen Wähler noch einmal knapp stärkste Kraft. Und weil die einstigen DDR-Bewohner zusätzlich die vormalige Staatspartei PDS an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern ließen, reichte es sogar noch einmal für eine rot-grüne Mehrheit.
Aber dann kam die Agenda 2010 mit Hartz IV, die insbesondere im Osten für neuerlichen Protest sorgte. Und so brach hier die SPD bei der Neuwahl 2005 besonders stark ein, während die PDS als Linkspartei wiederauferstand. Das Resultat war eine Kanzlerin aus Templin. Kolumne Nahost 4 16:39
Und so ging es weiter. Dass die FDP im Jahr 2013 aus dem Bundestag flog und damit die schwarz-gelbe Bundesregierung endete, hatte vor allem mit ihrer ostdeutschen Schwäche zu tun. Und dass komischerweise Olaf Scholz Kanzler wurde, hatte entscheidend damit zu tun, dass die SPD bei der Wahl 2021 ihr Ergebnis in Ostdeutschland beinahe verdoppeln konnte, während die CDU mit Armin Laschet noch hinter der AfD auf Platz 3 landete.
Überhaupt, die AfD. Sie wurde vornehmlich von den Ostdeutschen großgewählt und sorgte gemeinsam mit den Restlinken dafür, dass es jenseits von ihnen und der Groko nur für Dreierbündnisse reichte. So wuchs zusammen, was nicht zusammengehörte und Ampel genannt wurde.
Und jetzt? Jetzt wird die AfD unter Alice Weidel immer stärker, derweil Sahra Wagenknecht mit ihrem BSW die Linke zumindest vorläufig als Unmutsvehikel abgelöst hat. In den östlichen Landtagen ist die politische Mitte so sehr geschrumpft, dass SPD und CDU mit dem BSW regieren müssen, aber trotzdem kaum auf eine Mehrheit kommen.
Ostdeutschland schrumpft die politische Mitte ein
Was also wird am 23. Februar geschehen? Wenn AfD und BSW im Osten ihre Landtagswahlergebnisse bestätigen oder gar ausbauen, könnte dies beide Parteien gemeinsam in Richtung 30 Prozent bugsieren. Falls dann noch FDP und Linke aus dem Bundestag flögen, besäßen die Fraktionen von Weidel und Wagenknecht mehr als ein Drittel der Mandate – und damit eine Sperrminorität.
Ironischerweise könnte die von Gregor Gysi und Bodo Ramelow angeführte Altherren-Combo dieses Szenario verhindern. Falls sie wirklich die Wahlkreise in Ostberlin, Erfurt, Rostock oder Leipzig gewännen, säße die Partei, die einst die SED war, per Direktmandatsklausel weiter im Bundestag. Sie wäre dann im 35. Jahr der Wiedervereinigung – so wie gerade in Sachsen und Thüringen – ein unfreiwilliger Bündnispartner gegen Extremisten und Populisten. Gleichzeitig würde sie aber dafür sorgen, dass es für Mehrheiten in der Mitte noch enger wird.
Ach, das wird ein schönes Jahr. Ganz bestimmt.
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