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Kolumne: Ganz naher Osten: AfD, BSW und die ostdeutsche Rampe zur Macht



Höcke, Weidel, Lafontaine: Der Osten der Republik steht mit einer besonders starken AfD an der Spitze des neuen Zeitgeistes – und wird dabei wieder von Westdeutschen geführt. 

Meinem Berufsstand wird traditionell unterstellt, die zu berichtenden Dinge zu überspitzen oder gar zu skandalisieren. Pauschal ist dieser Verdacht nicht berechtigt. Zuweilen aber schon. 

Der Wettbewerb wird mit der Digitalisierung härter und existenziell. Der Verkaufsdruck wächst, für die Medienunternehmen und die dort Beschäftigten. Das zeitigt unschöne Folgen.

Doch auch das Gegenteil des Befundes erscheint mir richtig. Auch wenn das jetzt vielleicht schräg klingt: Wir Journalisten neigen zunehmend zur Untertreibung. Denn immer öfter wirkt die Realität auf mich um einiges extremer, absurder und krasser als das, was ich in Worte zu fassen vermag. Nahost Martin Debes

Zumindest ist das meine subjektive Erfahrung. Am vergangenen Wochenende saß ich in einer vom wütenden Protest umtosten Halle im Gewerbegebiet von Riesa, hörte Alice Weidel zu – und beobachtete etwas, wofür sich kaum adäquate Formulierungen finden ließen. Ich wohnte, um ein geschichtlich unbelastetes Wort zu verwenden, der Generalprobe einer geplanten Machtübernahme bei. 

Was mir dazu einfiel, war das, was nun mal mein erlerntes Handwerk ist, also eine einordnende Parteitagsreportage und eine nachträgliche Analyse. Parallel dazu liefen die Berichte der Nachrichtenagenturen auf den Seiten im Netz ein: Kanzlerkandidatin gewählt, Wahlprogramm beschlossen, Demonstranten und Polizisten verletzt …

Dabei geschieht gerade etwas in Deutschland und auf dieser Welt, das sich in seiner Gleichzeitigkeit und Komplexität, aber auch in seiner Radikalität nur schwer abbilden lässt. Mein automatischer Impuls ist der vieler anderer Menschen: Ich gehe auf Abstand.

Die Angstpartei AfD

Ich meine damit nicht journalistische Distanz, die ich sowieso für unbedingt geboten halte, sondern einen gesellschaftlichen Prozess. Wir gewöhnen uns, Wahl für Wahl, an etwas, an das wir uns nicht gewöhnen sollten.

Der Zeitgeist, welch deutsches Wort, wandert wieder einmal, und er wandert rückwärts. Dies ist, unter anderem, eine Reaktion auf Veränderungen, Zumutungen und Ungewissheiten, aber auch auf gut gemeinte Entscheidungen, die sich als falsch erwiesen und nicht konsequent genug korrigiert wurden. 

Vieles an dieser Reaktion ist erklärbar, manches sogar verständlich. Aber im Kern ist es, denn das bringt dieser Prozess nun mal mit sich: reaktionär. Eine Vergangenheit, die es so nie gab, soll zurückgeholt werden. Das ist eine doppelte Unmöglichkeit – und hält sich doch als Illusion, von der insbesondere die Angstpartei AfD lebt. Kolumne Fernost 2 9.18

Das Einzige aber, das gerade tatsächlich zurückkommt, ist etwas, das nie wirklich weg war, sondern nur marginalisiert oder überdeckt: Der autoritäre Imperialismus, der Grenzen infrage stellt. Der egoistische Isolationismus, dem der Rest der Welt egal ist. Der antidemokratische Nationalismus, der sich ethnisch und kulturell abgrenzt.

Die AfD ordnet sich in diesen Retro-Trend geschmeidig ein. Mit ihr gibt es in Deutschland wieder eine etablierte Parlamentspartei, die in Ton, Duktus und einem Teil ihrer Ideen wie ein Jahrhundert Jahre altes Echo klingt. Und dieses Echo wird immer lauter. In Riesa dröhnte es geradezu. 

Deshalb wage ich eine Prognose. Die Bundestagswahl wird endgültig belegen, was eine Mehrheit immer noch nicht glauben will: Extremismus und Populismus sind keine Phänomene des sogenannten Beitrittsgebiets. 

Das BSW und die Bonner Republik

Die Ostdeutschen befinden sich vielmehr an der Spitze einer Entwicklung, die sich ähnlich in Italien, in Osteuropa oder den USA zeigt – wobei sie, die Ostdeutschen, und das ist der ironische Twist, dabei zumeist von Westdeutschen wie Björn Höcke angeführt werden. 

Und damit bin ich bei der anderen Partei, die sich reaktionär gebärdet, im Osten stark ist und von Westdeutschen dominiert wird. Sie tagte parallel zur AfD in Bonn, dem Zentrum der verflossenen Republik. 

Auf dem Rückweg von Riesa sah ich im Zug das Video der Abschlussrede des BSW-Parteitages. Sie war auf gleich mehreren Ebenen absurd. Da sprach Oskar Lafontaine zu einer Partei, die inzwischen seine dritte ist, und die nach seiner vierten Frau Sahra Wagenknecht benannt ist. Kolumne Ost: Wie Ossis wählen 05.53

Sie habe, rief er ihr jovial zu, "eine fulminante Rede" gehalten. "Das kann ich nun wirklich nicht mehr toppen. Stellt euch mal vor, welcher Krach morgen am Frühstückstisch wäre, wenn ich jetzt hier noch eine großartige Rede halten würde." 

Während er das sagte, nahm Wagenknecht einen sehr langen Schluck aus ihrem Wasserglas. Als einstiger Ministerpräsident, Bundesfinanzminister, SPD-Vorsitzender und Linke-Vorsitzender sieht sich der 81-jährige Lafontaine als natürlicher Patriarch des BSW. Und er tat in seiner Rede das, was er sein politisches Leben lange tat: Er reduzierte die komplizierte Wirklichkeit auf einige eingängige Thesen. 

In Bonn hörte sich das so an: Wenn die Sanktionen gegen Moskau aufgehoben würden und wieder russisches Gas oder Öl flösse, würden die Energiepreise von alleine sinken und Deutschland bliebe von der Deindustrialisierung verschont. "So einfach ist die Welt."

Oskar Lafontaine war schon immer so

Natürlich lässt sich dies zurechtargumentieren, wenn einem die Zukunft der Ukraine und eines freien Europas egal ist. Und es war typisch Lafontaine.

Als er 1990 als Kanzlerkandidat der SPD gegen den CDU-Kanzler Helmut Kohl antrat, verlangte er, dass Ostdeutsche, wenn sie denn in die Bundesrepublik übersiedeln würden, erst einmal einen Wohnsitz und Arbeitsplatz vorweisen müssten. Er warnte vor der raschen Währungsunion – und ja, vor einer Deindustrialisierung der DDR. Und er sprach von "nationaler Besoffenheit".  

Im Nachhinein sah sich Lafontaine bestätigt. Doch die Fehler der Wiedervereinigung ändern nichts daran, dass er in den Kernfragen irrte. Er blendete schlicht die Tatsache aus, dass sich Millionen befreite Ostdeutsche nicht aufhalten ließen und dass sich das historische Zeitfenster jederzeit wieder schließen könnte. Und er brachte nicht ein klitzekleines bisschen Empathie auf. STERN PAID Jahresendheft 2024 Osten vs. Westen 20.38

Trotz seines bemerkenswerten Intellekts war er unfähig zu dem, was Kohl jenseits seiner offensichtlichen Partei- und Eigeninteressen stets verkörperte, nämlich den Glauben an ein starkes und liberal orientiertes Europa. Zumal, Lafontaine schienen die Menschen in Ostdeutschland schlicht egal zu sein.

Das ist bis heute so. Dass seine Frau, die das BSW anführt, einst in Jena geboren wurde, ändert wenig daran, dass die restliche Führungsriege westdeutsch sozialisiert ist. Und auch Sahra Wagenknecht wohnt natürlich längst im Saarland.

Ähnlich wie im Fall der AfD dient der Osten nur als Machtrampe. Hier testen die Parteien der politischen Ränder ihre Ideen und bauen ihre Strukturen auf, um im Bund erfolgreich zu sein.  

Wenn wir Ostdeutschen also wieder einmal beklagen, dass wir vom Westen kolonisiert wurden, dann sollten wir ehrlich sein: Für einen Teil davon sind wir selbst verantwortlich.

Alle bislang erschienenen Kolumnen von Martin Debes finden Sie hier.

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