Julian Kösters sensationeller Ballgewinn brachte Deutschland ins olympische Finale – jetzt soll der Gummersbacher die Nationalmannschaft zum WM-Titel führen.
Julian Köster sitzt in einem Abstellraum der Barclays Arena in Hamburg. Stühle und Tische stapeln sich hier und allerlei anderes Zeug in Pappkartons, für das man keinen besseren Ort weiß. Aber immerhin ist es ruhig hier. Köster kommt gerade von einem Fotoshooting aus der Halle. Letzte Bilder wurden gemacht vor der Weltmeisterschaft, die kurz bevorsteht.
Doch die Handball-WM in Dänemark scheint an diesem Vormittag weit weg für Köster. Er reist in seinen Worten zurück in die Vergangenheit, in den Sommer 2024, zu den Olympischen Sommerspielen. In Lille nämlich, am 7. August, erlebte Köster den bislang größten Moment seiner Karriere.
27.000 Zuschauer im Stade Pierre-Mauroy, olympisches Halbfinale, Frankreich gegen Deutschland. Noch sechs Sekunden zu spielen. Frankreich führt 29:28 und hat Ballbesitz. Die Partie scheint entschieden – aber dann passiert das Unglaubliche. Das, was die Zeitungen später ein "Jahrhundertspiel" und "Das Sechs-Sekunden-Wunder von Lille" nennen werden.
Julian Köster ist der Regisseur des "Wunders von Lille"
Regisseur dieses Wunders ist Julian Köster, 24, vom VfL Gummersbach. Köster beschreibt es so: "Wir bedrängen mit mehreren Leuten den ballführenden Spieler der Franzosen, Dika Mem. Ich weiß nicht mehr genau wie, aber ich kriege den Ball zu fassen, sehe, dass Renars (Uscins, Anm. d. Redaktion) freisteht und passe ihm den Ball zu. Renars wirft durch die Beine des Torwarts – drin. Ausgleich, Verlängerung, Spiel gewonnen."
Köster erzählt das mit einem ungläubigen Lächeln. So richtig kann er das noch immer nicht begreifen, was da passiert ist in Lille. "Es war Intuition bei mir, es ging so schnell, da konnte ich keinen Plan machen", sagt er. "Aber es hat funktioniert."
Oftmals sind es solche Momente, die eine Mannschaft zusammenschweißen, die ihr das Gefühl geben, das Unmögliche möglich machen zu können.
So ist es bei den deutschen Fußballern vor der Heim-EM gewesen. Die beiden Siege gegen Frankreich und die Niederlande im März waren wie eine Wiederauferstehung nach dem düsteren Herbst 2023, als man gegen die Türkei und Österreich verlor. Vor allem der Sieg gegen Frankreich, den WM-Finalisten 2022, gab der Mannschaft von Julian Nagelsmann einen Schub. Das Team spielte eine starke EM und scheiterte erst in der 119. Minute des Viertelfinales gegen den späteren Turniersieger Spanien.
Deutschland zählt zu den WM-Favoriten
Auf eine ähnliche Dynamik hoffen nun auch die deutschen Handballer. Als Silbermedaillengewinner der Sommerspiele gehören sie zu den WM-Favoriten, obwohl Mannschaften wie Dänemark und auch Frankreich stärker einzuschätzen sind.
Einer der Anführer des deutschen Teams wird Köster sein. Bundestrainer Alfred Gislason bezeichnet ihn als "Schlüsselspieler" und wird in der ersten WM-Partie gegen Polen an diesem Mittwoch (ARD, 20:30 Uhr) wieder auf den 2,03 großen Gummersbacher bauen.
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Köster kommt auch deshalb eine zentrale Rolle zu, weil er vielseitig ist wie kaum ein anderer im Nationalteam. Der gebürtige Bielefelder kann sowohl offensiv (im halblinken Rückraum) als auch defensiv (im Innenblock) eingesetzt werden. Vor allem in der Abwehr überragt er, Gislason sieht in ihm einen "absoluten Weltklassespieler".
Köster hat einen steilen Aufstieg hinter sich. Als er 2021 zur Nationalmannschaft stieß, spielte er mit Gummersbach noch in der zweiten Liga. Gislason musste Kritik einstecken, als er Köster für die EM 2022 in Ungarn und der Slowakei nominierte. Zu jung, zu unerfahren, hieß es. Doch Köster spielte ein starkes Turnier und war mit 19 Treffern zweitbester Torschütze des Teams, das den siebten Platz belegte. Mit einiger Genugtuung sagte Gislason nach der EM: "Viele haben mich für verrückt erklärt, doch mittlerweile sollten die Kritiker verstummt sein."
Heute ist Köster nicht mehr aus der Nationalmannschaft wegzudenken. Nicht nur wegen seiner sportlichen Qualitäten. Köster ist einer der Wortführer im Team, leise, aber bestimmt im Ton. Ein kluger Kopf, der neben seiner Handballkarriere einen Bachelor in Betriebswirtschaftslehre an der Universität Köln gemacht hat und nun im Fernstudium an einem Master-Abschluss arbeitet.
Anfragen von Großklubs hat Köster schon bekommen
Nur Sport, nur Handball, das würde Köster, Sohn einer Anästhesistin und eines Personalers aus Brauweiler bei Köln, nicht genügen. "Wirtschaft interessiert mich sehr", sagt er, "da möchte ich noch tiefer eintauchen."
Die nächsten Jahre gehören aber dem Sport, so wünscht sich das Köster. Wenn er weiterhin frei von schweren Verletzungen bleibt, kann er noch bis Mitte dreißig spielen. Fragt sich nur: wo?
Anfragen von Großklubs aus der Bundesliga hat Köster schon bekommen, bloß hat er die allesamt abgelehnt. Er ist seit vier Jahren dem VfL Gummersbach treu, in den 1970er-Jahren eine große Nummer im europäischen Handball, heute aber nur noch gehobene Mittelklasse.
Keine Lust, es mal bei einem Spitzenverein zu probieren? "Gummersbach ist noch immer der richtige Klub für mich", sagt Köster, "ich bin stolz auf das, was wir gemeinsam aufgebaut haben."
Was macht eigentlich Andreas Thiel?12.15
So intellektuell beweglich Köster auch ist, so erdverbunden scheint er mit den Füßen. Gummersbach ist sein Klub und Köln seine Stadt. Köster fährt täglich zum Training nach Gummersbach, 45 Minuten braucht er aus Köln mit dem Auto für einen Weg. Er nimmt das alles auf sich: die Pendelei, das Studium, die vielen Spiele mit dem VfL und der Nationalmannschaft – in jedem Winter findet entweder eine EM oder WM statt.
Köster ist leidensfähig, wie sonst auch könnte er Fan des FC Schalke 04 sein. Gelegentlich fährt er nach Gelsenkirchen ins Stadion. Zuletzt war er beim Heimspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern in der Arena, das Spiel ging 0:3 verloren.
Erfolgserlebnisse im Sport, das hat Schalke ihn in vielen Jahren gelehrt, muss Köster sich schon selbst erarbeiten.