Russlands Präsident stellt sich den Fragen der Weltpresse. Die Veranstaltung ist so langatmig wie bizarr. Und dann erzählt Wladimir Putin von einem Mädchenchor in Hannover.
Was ist das Problem in Deutschland?
Wladimir Putin nimmt sich am Donnerstag viel Zeit für seine Jahrespressekonferenz, in der er auch die Fragen von russischen Bürgern beantwortet. Länger als vier Stunden dauerte die Veranstaltung im Moskauer Zentrum dieses Jahr, das ist nicht einmal Rekord. Also hatte er auch Zeit, um die Lage im europäischen Ausland anhand eigener Erlebnisse zu analysieren.
Putin erinnert sich an eine Geburtstagsfeier, auf die ihn sein Freund Gerhard Schröder einmal eingeladen hatte. Das sei allerdings lange her. "Es gab ein kleines Konzert", sagt er, "und alle sangen Lieder auf Englisch." Sogar der Mädchenchor aus Hannover sei dagewesen und habe Lieder in der Fremdsprache vorgetragen, wundert sich Putin. Nur ein russisches Kosaken-Kollektiv glänzte mit deutschem Liedgut. Den Deutschen sei das hinterher sehr peinlich gewesen, behauptet der russische Präsident und fragt sich dann: Kann ein Land, in dem die Menschen englische Lieder singen, wirklich souverän sein? "Die Nachkriegsjahre haben den Deutschen das Gefühl für ihre Heimat und ihre Souveränität genommen", so das Fazit des Präsidenten. Und deshalb gehe es der deutschen Wirtschaft nun schlecht.
Vieles in Russland liegt im Argen – aber nicht so sehr wie in Europa
Europa ist für Putin immer noch sehr wichtig, es ist die Messlatte. Hauptsächlich dient es in der Propaganda allerdings als Hort des Übels. Gibt es in Russland ein Problem, dann ist dieses Problem in Europa in Putins Darstellung auf jeden Fall schlimmer. Geburtenzahlen, Einwanderung – fragen die russischen Bürger danach, dann sagt Putin, dass diese Probleme in Russland existieren, aber immerhin nicht so schlimm seien wie angeblich in Europa.
So ähnlich hört sich auch Putins Vortrag über die Wirtschaft an. Er preist sie als stabil, nennt Inflation und Preissteigerung aber ein "alarmierendes Signal". Die liegt in Russland inzwischen bei mehr als neun Prozent, der Leitzins musste auf 21 Prozent angehoben werden. Im Dezember brach der Rubelkurs ein. Zwar wächst die Wirtschaft, doch einzig und allein, weil der Staat Milliarden in die Kriegswirtschaft pumpt: Die Militärausgaben stiegen zuletzt um 70 Prozent. Wer das anders vernehme, der müsse verstehen, dass die Wachstumsraten natürlich ein Mittelwert seien.
Putins langatmige Versammlung hat Tradition, es ist eine riesige Propaganda-Show, die im Fernsehen und im Internet live übertragen wird. Mehr als zwei Millionen Fragen liefen bei den Machern auf, behaupteten diese, vorsortiert von Künstlicher Intelligenz, wie es im Laufe der Sendung immer wieder hieß.
Wladimir Putin, der großzügige, allwissende Zar
Der Präsident tritt darin wie ein allmächtiger, allwissender, spendabler und großzügiger Zar auf, der auf jede Frage eine Antwort weiß. Um alles muss er sich selbst kümmern, keine Frage ist zu detailverliebt für ihn. Wie viele Kinos brauchen die Siedlungen in der Arktis, wie hoch sind die Kindertarife bei den lokalen Fluglinien und Koroljow im Moskauer Umland braucht dringend eine dritte Autobahnzufahrt!
Eine Frau aus Nischnij Nowgorod erzählt am Telefon, es gebe so wenig Kardiologen in den Polikliniken ihrer Region und sie bekomme keinen Termin für ihren Vater. Ein Journalist macht sich Sorgen, Amerika, Japan und Europa könnten durch den Klimawandel in den Ozeanen versinken und die Menschen flüchteten dann nach Russland, das nach dieser Weltsicht natürlich einzig nicht untergeht, wie eine Arche Noah für die Weltbevölkerung. Was dann?
Putins Politologen hatten sich offenbar überlegt, das Land in dieser Sendung immer wieder als Haus zu beschreiben, in dem Putin aufräumen und für Ordnung sorgen müsse. Die Russen seien eine große Familie – immer wieder spricht Putin davon. Er behauptet auch, in Russland lebten inzwischen mehr Ukrainer als in der Ukraine – er zählt einfach die besetzten Gebiete mit. Natürlich geht es auch um den russischen Angriffskrieg, der in Russland in der öffentlichen Darstellung nur SWO genannt wird, eine Abkürzung für "Militärische Spezialoperation".
Nach Schätzungen unabhängiger Beobachter starben bislang etwa 150.000 russische Männer in diesem Krieg, aber die Menschen im Land haben sich trotzdem an ihn gewöhnt. Befragt nach ihrer größten Sorge, nannten die meisten in einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums steigende Preise, dann Korruption, dann das Problem der Einwanderung und dann erst den Krieg. Viele wünschen sich Friedensverhandlungen, auch das zeigen Umfragen, aber wenn es um die Bedingungen eines Friedens geht, dann ist nach Vorstellungen der Befragten eigentlich nur eine Kapitulation der Ukraine vorstellbar. So ähnlich hört sich das auch in Putins Darstellung an.
Eine Atombombe gegen die Ukraine? Nicht ausgeschlossen
Zu Verhandlungen sei er jederzeit bereit, behauptet er in seiner Presseshow, allerdings nicht mit Wolodymyr Selenskjy, den er nicht für den legitimen Präsidenten der Ukraine hält. Eine Journalistin will wissen, ob er glaube, dass der Westen die neue atomare Doktrin richtig verstanden habe. Putin droht daraufhin wieder der Ukraine: Wenn Russland von einem Staat bedroht werde, der sich mit Atommächten gegen Russland verbünde, dann "behalten wir uns das Recht vor, gegen diesen eine Atombombe einzusetzen". Immerhin hielten in einer Umfrage 29 Prozent der befragten Russen den Einsatz der Massenvernichtungswaffe gegen die Ukraine für gerechtfertigt.
Wie der Krieg Putin verändert habe, fragt ein russischer Journalist. "Ich mache weniger Witze und habe fast aufgehört zu lachen", sagt Putin. Eine Korrespondentin der russischen Tageszeitung RBK will wissen, ob er den Krieg, den sie Spezialoperation nennt, im Nachhinein wieder anfangen würde: Putin hatte im Februar 2022 mit einem schnellen Sieg gerechnet. Er hätte ihn noch eher begonnen, antwortet Putin. "Wir haben diese Ereignisse ohne spezielle Vorbereitung begonnen. Wir hätten uns ernsthaft vorbereiten müssen." Er verurteilt das Attentat Anfang der Woche auf den russischen General Igor Kirillow, der vor seinem Wohnhaus in Moskau bei einer Sprengstoffexplosion starb. Die russischen Sicherheitsdienste hätte einen riesigen Fehler gemacht, da sie den Mord nicht verhindert hätten.
PAID IV Kirillow Anschlag Ukraine-Krieg 09.43
Kritische Fragen lässt Putin in gewohnter Manier an sich abperlen. Putin habe das Ziel der Spezialoperation nicht erreicht, viele russische Soldaten seien tot, sein Verbündeter Baschar al-Assad wurde gestürzt, analysiert der Korrespondent des US-amerikanischen Fernsehsenders NBC News. Der russische Präsident sei deshalb deutlich geschwächt. "Was bieten Sie Donald Trump für einen Kompromiss an, wenn Sie sich treffen", fragt er.
Noch kein Treffen mit Baschar al-Assad
In Syrien habe er keine Niederlage erlitten, behauptet Putin. "Sie und die Menschen, die Ihr Gehalt zahlen, wollen das wie eine Niederlage Russlands darstellen." Russland stehe in Kontakt mit allen Gruppen, die das Land derzeit kontrollierten. Die meisten von ihnen seien daran interessiert, dass Russland seine zwei Militärstützpunkte halten könne. Mit Assad, der in Moskau Zuflucht fand, habe er sich noch nicht getroffen.
Folgen von Syrien-Umsturz für Ukraine-Krieg 18:11
Die Fragen von zwei ausländischen Journalisten sind die einzigen kritischen während dieser Mammutveranstaltung, manchmal gibt es für den Präsidenten sogar Applaus. Eine Journalistin bedankt sich sogar dafür, dass in ihrer Region nun ein so starker Gouverneur eingesetzt wurde.
In einer Umfrage wollten die Soziologen des Lewada-Zentrums im Vorfeld wissen, welche Fragen die Russen dem Präsidenten gerne stellen würden. Ein Drittel hatte gar keine. Vier Prozent wollten ihm Glück wünschen. Und nur ein Prozent wollte wissen, wann er abtritt.