Der Jahrestag des 7. Oktober würde unendlich traurig sein, das war immer klar. Dass er aber Israel beinahe vor Schmerz zerreißt, liegt daran, dass Premier Netanjahu die Geiseln nicht aus den Klauen der Hamas befreit. Das hat das Land nicht verdient, am allerwenigsten die tapferen Überlebenden des Terrors.
Als Irit Lahav und ihre Tochter aus dem Kibbuz Nir Oz am 7. Oktober frühmorgens in ihren Schutzraum rennen, halten sie das, was draußen passiert, noch für einen normalen Luftalarm. Raketen aus dem Gazastreifen, wie ein, zwei Mal im Monat, gleich vorbei. Doch plötzlich kommt eine andere Sorte Knall hinzu. Schüsse aus automatischen Waffen. Explodierende Granaten, Panzerbüchsen, vor dem Haus, seitlich davon, überall. Stimmen sind zu hören, sie sprechen Arabisch.
In den kommenden 12 Stunden wird es keinen Moment ohne Gewehrsalven und Explosionen geben. Irit und ihre Tochter hingegen werden in vollkommener Stille agieren. Niemand da draußen darf hören, dass sich hier Menschen befinden. Irit wird aus einer Bootsstange und Teilen des Staubsaugers eine Vorrichtung bauen, die das Schloss der Zimmertür stabilisiert. Das wird nicht einfach sein, weil sie nicht aufhören kann, am ganzen Leib zu zittern.
Irit ist sich sicher, dass die Tür nicht halten wird. Darum wird sie geräuschlos Bücher aus dem Regal ziehen, sie als Schutzwall vor der Tür stapeln. Sie denkt, "dann werden wir nicht tödlich getroffen, nur verletzt". Sinnlos, flüstert ihre Tochter. "Wir werden sterben." Das erste Buch, das Irit zu fassen kriegt, ist ein Sachbuch über die Nazizeit. Sie zeigt es ihrer Tochter und flüstert, "Ich hoffe, Hitler rettet uns diesmal."
Wer Irit Lahav zuhört, wenn sie in diesen Tagen die Geschichte ihres Überlebens erzählt, kann kaum anders als in Gedanken mit ihr in diesem stockfinsteren, stickigen Zimmer zu liegen. Draußen ziehen die marodierenden Terroristen von Haus zu Haus. Fünfmal stehen sie vor der Tür zum Schutzraum, direkt davor, treten dagegen, hämmern dagegen, verlieren die Lust. Das letzte Mal nachmittags um fünf.
"Verraten" habe sie sich gefühlt, die 12 Stunden im Versteck. Von ihrem Land, ihrer Armee in Todesgefahr im Stich gelassen. Und verraten fühlt sich Irit Lahav auch heute. Sie, die in größter Not unglaublichen Mut und Kampfgeist bewiesen hat, kommt bei dem Gedanken an 101 Geiseln, die noch in der Gefangenschaft der Hamas sind, an ihre Grenzen. "Für Sie sind das Namen und Bilder", sagt Irit ihren Zuhörern. "Für mich sind das einige meiner besten Freunde. Eltern meiner Freunde. Kinder meiner Freunde. Ich weiß, wie ihre Stimmen klingen."
Irit nutzt ihren Mut und ihren Kampfgeist heute, um für einen Geisel-Deal mit der Hamas zu kämpfen. Wie das ungeheuer viele Israelis tun, seit 365 Tagen. Ein so großer Teil gemessen an dieser 10-Millionen-Bevölkerung, wie in Israel immer wieder für die Befreiung der Geiseln auf die Straße geht, ist in Deutschland noch nie auf der Straße gewesen. Für nichts.
Sie alle fühlen sich verraten von ihrer Regierung, und dieses Gefühl trügt sie nicht. Israels Premier Benjamin Netanjahu hat vor 13 Jahren alles getan, um mit einem Deal einen einzigen israelischen Soldaten aus den Klauen der Terroristen zu befreien. 1027 palästinensische Häftlinge kamen damals im Gegenzug frei. 1027 zu 1. Heute scheint Netanjahu einiges zu tun, um einen Deal mit der Hamas zu verhindern. Und nimmt sehend in Kauf, wie sein Land daran zerbricht.
Argumente hat er immer - seien sie politischer oder militärischer Natur, und sie sind alle widerlegt. Zählen tun sie dennoch, weil für die israelische Regierung das Leben der 101 Verschleppten, Gefolterten, Vergewaltigten in den Tunneln von Gaza offensichtlich nicht so viel zählt, wie der eigene Machterhalt.
Weil Irit Lahav viel an ihre entführten Nachbarn denkt, liegt sie nachts oft wach. Eine Freundin von Irit hat ihren eigenen Sohn schon begraben. Ihre Tochter wird gefangen gehalten im Gazastreifen. "Sie kann gar nicht mehr schlafen und auch nicht essen", beschreibt Irit den Zustand der Freundin. Und jeder, der das hört, weiß, dass das Leben dieser Mutter mit einem Ausdruck wiederzugeben ist: unerträglich. Dass Benjamin Netanjahu allem Anschein nach nachts in den Schlaf findet, ist nicht zu fassen.