11 hours ago

Hinter der Geschichte: Warum ich mit der Badehose ins Krisengebiet fuhr



Tagsüber aus dem Kampfgebiet in Israel berichten, abends abschalten am Strand. Unser Reporter fragt sich immer wieder: Darf man im Krieg einfach Feierabend machen? 

Ich packe meinen Koffer und nehme mit: eine Splitterschutzweste, den Gefechtshelm, Sonnencreme und zwei Badeshorts. So läuft das immer, wenn ich für den stern nach Tel Aviv fliege. Wer in diesen Zeiten aus Israel berichtet, pendelt zwischen zwei Galaxien. Tagsüber unterwegs im entvölkerten Kampfgebiet, abends zurück im Gewusel der Großstadt. Von Raketenkratern zu Sandburgen sind es knapp zwei Autobahnstunden.

Die Verlockung ist groß, auch zuletzt wieder im September. Mein Tel Aviver Hotel liegt in zweiter Reihe zum Strand. Der nahöstliche Herbst ist noch angenehm heiß und jener Arbeitstag ein besonders langer gewesen, hoch im Norden, an Israels Front mit der Hisbollah. Premier Benjamin Netanjahu bereitet damals seine Bodenoffensive im Libanon vor. Täglich fliegen sprengstoffbeladene Drohnen, Mörsergranaten und Katjuscha-Raketen über die Grenze. Die Dinge dort oben können sehr schnell sehr heikel werden. 

Der Strand ist der Ort, "um den ganzen Scheiß im Kopf zu ordnen"

Die Schutzausrüstung auf dem Beifahrersitz dünstet noch vor sich hin, als ich auf die Zielgerade meines Nachhausewegs einbiege: die Uferpromenade des Bograshov Beach. 

Keine 15 Minuten später versinken meine Füße im samten Sand. Ich liege zwischen Joggern, Kiffern, Pärchen, gelebte und geliebte Normalität. Unter die House-Bässe eines Ghettoblasters mischt sich das kakofone Ploppen der Matkot-Spieler, Israels inoffizieller Nationalsport, eine Art Strandtennis ohne Netz und ohne Linien, dafür mit einem Ehrgeiz praktiziert, als würde man hier um die Zweistaatenlösung spielen. Mein Strandnachbar Dor übt Handstände in der Abendsonne. Er komme jeden Tag, erzählt er. "Das ist Zeit für mich. Um alles in meinem Kopf zu ordnen. Den ganzen Scheiß, der gerade abgeht." 

Der Scheiß, der abgeht: Bomben auf Gaza, gescheiterte Geiseldeals, explodierende Pager, gewalttätige Siedler, barbarische Islamisten, drohende Mullahs, kriegswütiger Bibi, gespaltenes Israel. Und mitten in diesem tosenden Chaos, wie im Auge eines Hurrikans: ich auf einem Strandtuch, mit einer brennenden Frage im Kopf. Darf man Feierabend machen vom Krieg?

Abendsonne am Bograshov Beach in Tel AvivHandtuch raus, Kopf aus: Hubers Feierabend-Aussicht am Bograshov Beach in Tel Aviv
© Fabian Huber

Tel Aviv ist eine Stadt, die Richtung Wasser fließt, nicht umgekehrt. Als während der Pandemie ein Badeverbot herrschte, protestierten die Menschen so lange, bis der Bürgermeister sie wieder ins Meer ließ. Dreizehn Strände gibt es hier, wie Themenwelten im Freizeitpark. Den Hundestrand, den Schwulenstrand und gleich daneben, eingefasst in hölzerne Sichtschutzmauern, den Orthodoxenstrand. Montags und mittwochs geöffnet für Männer; sonntags, dienstags, donnerstags für Frauen; an Schabbat dann für alle, so sie sich denn sittlich kleiden. 

Jetzt, wo die Touristenmassen in Israel fehlen, haben die Tel Aviver ihr sandiges Wohnzimmer ausnahmsweise für sich allein. Und sie können einfach nicht ohne. 

Jedes Mal wieder fühlt sich der Sprung ins Wasser falsch an

Nur für ein paar atemlose Wochen nach den Hamas-Gräueln des 7. Oktobers 2023 steckten die Sonnenschirme im Sand wie dahin faulende Pilze im Spätherbst. Schon bald aber zog es die Menschen wieder ans Wasser. Über ihren Köpfen schwirrten Militärhubschrauber ihrem Gaza-Einsatz entgegen. Der Luftalarm – anfangs noch täglich, irgendwann nurmehr sporadisch – verdumpfte schnell zum bloßen Weckruf, dass dieses Land sich tatsächlich noch im Überlebenskampf befindet. Die Menschen blieben einfach liegen. Sie liefen nicht mehr in die Bunker. Sie arrangierten sich mit dem neuen Alltag. Und ich kann sie verstehen. 

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Wenn ich abends in die Wellen des Mittelmeers springe, gleicht das einem Heilbad. Als würde ich mich reinwaschen von all dem Erlebten, Gehörten und Gesehenen des Tages. Von den Bildern toter Kinder, die Notärzte mir aus Gaza schicken. Vom tränenreichen Gespräch, das ich mittags noch am Küchentisch einer traumatisierten israelischen Familie geführt habe. Von der bitteren Einsicht, dass hier so schnell nichts besser werden wird, dass diese Region auf eine Sackgasse zurast und den Rückwärtsgang nicht mehr findet. 

Nur wenige Minuten seliger Ruhe. Untertauchen, durchschnaufen, abschalten. Ich weiß, dass das ein Luxus ist, den sich die Menschen in Gaza nicht leisten können. Jedes Mal wieder fühlt es sich falsch an, hier zu planschen, während irgendwo hinter der Silhouette des alten Glockenturms von Jaffa, keine 100 Kilometer südlich, am selben Meer, vor denselben Wellen, hunderttausende Palästinenser in windigen Zelten ausharren. 

Tel Aviv ist bei den Israelis vom Lande, aus den gefährdeten Grenzgebieten, lange schon verschrien als Stadt der Ignoranten, abgeschirmt durch ein beinahe undurchstößliches Luftabwehrsystem. Die Welt kann untergehen, doch hier fließen noch immer Milch, Honig und die perfekt ausbalancierten Designerdrinks auf einen Eiskubus im Tumbler-Glas. Als Reporter bin ich Teil dieser Blase. Ich trinke, flaniere und bade. Um tags darauf wieder von Leid, Schmerz und Gewalt zu berichten. Im Krieg meiner Gedanken gewinnt am Ende immer der Selbsterhaltungstrieb über den moralischen Anspruch: Jeder Mensch muss runterfahren, um am nächsten Morgen wieder auf Hochtouren laufen zu können. Auch –oder besser: gerade – in einem Krisengebiet. 

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Ein Bademeister wurde zur Symbolfigur Israels

Ein letzter Tag am Meer also. Samstag, jüdischer Ruhetag, 31,2 Grad, Charles Clore Beach. Der Familienstrand, wenn man so will. Mit Grillplätzen und Picknickzonen. Über dem weiß getünchten Rettungsturm signalisiert rote Beflaggung ein heute nicht ganz unbeträchtliches Schwimmrisiko. Die Strömung vor Tel Aviv ist tückisch. Bei Wellengang klammern sich unsichtbare Unterwasserhände an die Fußknöchel und ziehen einen immer weiter in die Tiefe. Jährlich kommt es zu tödlichen Unfällen. 

Auf seinem Hochsitz blickt Schimon Abotbol dennoch auf einen Flickenteppich aus bunten Handtüchern. Bevor ich den Thron des Bademeisters betreten darf, spritzt er mir den Sand von den Füßen. Dann fragt er: "Wie hast du mich gefunden?" 

Der Tel Aviver Bademeister Schimon Abotbol auf seinem HochsitzIkone in Flipflops: der Tel Aviver Bademeister Schimon Abotbol wurde in diesem Sommer zur Symbolfigur Israels
© Fabian Huber

Einen Legendenstatus hatten die Rettungsschwimmer von Tel Aviv schon immer. Wie sie herabblickten von ihren Balustraden, so poseidonhaft, sich nur selten herunterbemühten, sondern lieber über ihre blechernen Lautsprecher "die Frau im grünen Bikini" oder "den Jungen in der roten Badehose" maßregelten. Abotbol jedoch wurde wegen einer sehr viel herzlicheren Durchsage berühmt. An einem sengend heißen Junitag 2024 rief er vier Namen über den Charles Clore Beach: 

Noa Argamani
Schlomi Ziv
Almog Meir 
Andrey Kozlov

Israelische Spezialeinheiten hatten sie kurz zuvor aus Verstecken der Hamas in Gaza befreit. Die Stadtverwaltung von Tel Aviv schickte einen vorformulierten Text an all ihre Strandwächter, mit der Bitte, die selten frohe Kunde unter die Badegäste zu bringen. Abotbol verlas wie befohlen, die Menge unter ihm brach in Jubel aus, jemand filmte, das Video ging viral. Für wenige Tage in diesem Sommer war ein Rettungsschwimmer zur Symbolfigur Israels aufgestiegen. 

Gewissensfrage an den Flipflop-Helden: Ist es wirklich richtig, unbeschwert baden zu gehen, während das Sterben in Gaza nicht aufhört und noch immer Dutzende Israelis in Terrortunneln stecken? Schimon Abotbol findet: "Die Leute kommen hierher, um den Krieg für einen Moment zu vergessen. Hier haben die Menschen kein Balagan." Balagan, Hebräisch für: Chaos im Kopf, Dauergemütszustand in diesem Erdteil.

Plakat der fünfjährigen israelischen Geisel Ariel Bibas am Strand von Tel AvivZwei Welten: In Gaza harren noch immer israelische Geiseln der Hamas aus, sterben tausende Palästinenser. In Tel Aviv geht das Leben weiter, vor allem am Strand
© Fabian Huber

Wenige Wochen nach der Geiselbefreiung trifft eine Drohne der jemenitischen Huthi-Miliz das Herz von Tel Aviv. Sie schlägt gleich hinter meinem Hotel ein, dritte Reihe zum Strand, Höhe Bograshov Beach. Die Raketenabwehrkapsel ist ausnahmsweise durchlässig. Ein Mann stirbt. Doch für alle anderen muss das Leben weitergehen. Das Date, der Joint, die Matkot-Partie am Strand. So ist es hier schon immer gewesen. 

Wenn Kriegswolken aufziehen über dem gelobten Land, vergewissern die Menschen darunter sich ihrer eigenen Existenz stets mit drei einprägsamen Worten: Am Israel Chai! Das Volk Israels lebt! 

Und solange es die Leute an den Strand von Tel Aviv zieht, solange lebt auch Israel. 

Alle Making-Of-Geschichten der stern-Redaktion finden Sie in dieser Übersicht.

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